Hamburg. Anna Thorvaldsdottir über die Freiheit über Kunst zu denken und Musik zu erschaffen. Ihr Lieblingsinstrument: Das Orchester.

Ihre Musik sei wie Lava, wird gern über sie geschrieben. Die Isländerin Anna Thorvaldsdottir erschafft mit Klängen epische Panoramen aus Tönen und Rhythmen. Vor sechs Jahren war sie Gast beim „Iceland Festival“ in der Elbphilharmonie, damals dirigierte Esa-Pekka Salonen ihr „Aeriality“. „Catamorphosis“ wurde 2021 durch die Berliner Philharmoniker uraufgeführt. Im Rahmen des „Visions“-Festival" stellen Alan Gilbert und das NDR Elbphilharmonie Orchester diese Orchesterstudie vor.

Hamburger Abendblatt: Wie wird man auf Island zur Komponistin?

Anna Thorvaldsdottir: Woher man kommt, kann womöglich eine Rolle spielen, aber entscheidend ist das nicht. Auf Island gibt es viele Freiheit, auch die, über das Leben und Kunst nachzudenken. Diese Art von Freiraum zu haben – mental und körperlich – hat mir geholfen. Aber ich wäre wohl überall zur Komponistin geworden.

Ihre Musik hat für mich eine spirituelle Nähe zu Ligetis Klangfarben-Räuschen. Sie ähnelt weiten Landschaften.

Anna Thorvaldsdottir: Genau, es geht mir sehr um Klänge und Schichtungen, wie man das alles orchestriert und man ein Stück strukturiert. Davon bin ich wie besessen, dieser Weg ist so entscheidend. Man muss sich erlauben, in diesem Klang zu leben und dort zu bleiben.

Manche Komponisten haben Instrumente, die sie besonders mögen – oder die sie, wie Strauss die Hörner, besonders gern quälen. Wie ist es mit Ihnen? Sie scheinen mit dem gesamten Orchester zu spielen. Denken Sie noch in Instrumenten oder mehr in Farben?

Anna Thorvaldsdottir: Ganz eindeutig denke ich noch in Instrumenten – in ihren Kombinationen und wie man Klänge baut. Mein Lieblingsinstrument ist das Orchester. Darin schwingt so stark mit, wie ich über Musik denke, wie ich sie fühle und sie erschaffe. All diese vielen Möglichkeiten. Meine Musik ist immer auf diesen Flow hin geschrieben, der Dinge mit sich trägt.

Sie scheinen sehr die konkrete Inspiration durch Natur zu benötigen. Soll ich mir also vorstellen, dass Sie durch kalte isländische Gegend laufen, auf Ideen warten und sofort in die nächste Hütte laufen, um es möglichst schnell aufs Notenpapier zu bekommen?

Anna Thorvaldsdottir: Ich würde nicht sagen, dass ich solch eine Inspiration durch Natur brauche. Aber wenn ich eine Energie, ein Element der Natur entdecke, das mich aus musikalischer Perspektive fasziniert oder das etwas zu mir sagt, kann das helfen. Egal, wo auf Island man ist, überall ist unberührte Natur ganz nah. Überall gibt es viel Platz und diesen weiten Horizont. Aber wenn ich Musik schreibe, romantisiere ich die Natur eindeutig nicht. Sie kann grausam sein und gefährlich. Es gibt dieses wunderbare Gleichgewicht zwischen wunderbaren Blumen und kargen Dingen, die einen töten können. Das ist inspirierend. Aber meine Musik ist nie „über“ Natur, es geht um Energien, die mir dabei helfen, Ideen zu kanalisieren.

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Und mitunter müssen Sie ein Stück erst „zeichnen“, bevor Sie es aufschreiben?

Anna Thorvaldsdottir: Das ist ein weiteres Werkzeug für die Arbeit mit der Musik, weil es so viel Zeit benötigt, alles in einem langen Orchesterstück zu notieren. Damit kann ich in die ersten Skizzen „zurückhören“, ohne dass jemand es nachvollziehen könnte, was ich dort höre, wenn ich die Seite sehe.

Ihre Karriere ist wirklich beeindruckend, viele Uraufführungen mit den wichtigsten Orchestern weltweit, die darauf warten, dass Sie rechtzeitig abgeben. Wie läuft diese Zusammenarbeit? Stehen Sie miteinander in Verbindung, während etwas entsteht?

Anna Thorvaldsdottir: Stimmt, diese Warteschlange großer Orchester ist schon toll. Aber von vorn: Ich bekomme einen Auftrag, einige Jahre später – meine Planung umfasst so viel Zeit – beginne ich damit, und dann habe ich komplette Freiheit. Dann rede ich mit niemandem darüber. Bei der Verschriftlichung bin ich unglaublich detailliert, so klar wie möglich. 100 Menschen haben dafür nur wenig Probenzeit, alles muss also ganz eindeutig sein. Das Orchester und der Dirigent bekommen die Noten, und sie machen ihre Arbeit. Und bin ich bei den Proben dabei, kann man mich fragen.

Schon mal überrascht worden beim ersten tatsächlichen Hören einer neuen Komposition?

Anna Thorvaldsdottir: Nein. Ich weiß ja ganz genau, was passiert – jeden Klang, jede einzelne Note, jeden Akzent, jeden Rhythmus. Überrascht worden bin ich noch nie. Ich arbeite sehr stark aus dem Inneren, ohne Instrument, ohne Klavier, auf Papier, aus meinen Gedanken heraus. So höre ich. Ich höre die Musik in meinem Kopf, während ich sie schreibe. Gebe ich das Stück ab, kenne ich alles. Mein eigener Zieltermin liegt weit vor dem Datum, ab dem das Orchester die Noten braucht, weil ich einige Wochen benötige, nachdem das Stück fertig ist. Ich muss es liegen lassen, muss zu ihm zurückkommen und mich und das Stück fragen: Sind wir soweit? Ich bin eine sehr schnelle Arbeiterin, aber ich erlaube mir viel Raum im Kalender. Deswegen habe ich auch noch nie etwas zu spät abgegeben.

Es gibt Menschen, die Mozart, Bach, Wagner, Strauss, wen auch immer, zeitgenössischer Musik vorziehen. Empfinden Sie das als persönliche Beleidigung, oder können Sie es verstehen?

Anna Thorvaldsdottir: Wir alle sind so individuell. Es ist auch sehr verständlich, wenn sie vor allem ältere Musik gehört haben. Und es gibt so viele unterschiedliche Arten zeitgenössischer Musik, niemand kann alles kennen. Und nicht alle mögen alles aus dem älteren Repertoire. Ich finde es nicht beleidigend, aber ich möchte Menschen ermutigen, sich der Neuen Musik zu nähern.

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  • Gibt es ein Stück, dass Sie liebend gern selbst geschrieben hätten?

    Anna Thorvaldsdottir: Wenn ich etwas wirklich bewundere, habe ich diesen Wunsch ganz und gar nicht. Es ist nicht an mir, das zu stehlen. Das gehört den Komponisten und ist eine wunderbare Bereicherung der Musik. Für den Dirigenten und Komponisten Esa-Pekka Salonen, sagte er, ist der schönste Klang, abgesehen von der Stille: Vor seiner Sauna sitzen, aufs Wasser schauen und ein Bier aufmachen.

    Und Ihrer?

    Anna Thorvaldsdottir: Eine Sauna und das Öffnen einer Bierflasche – diesen Klang mag ich nicht. Aber bei dem damit verbundenen Gefühl muss ich ihm Recht geben. Da geht es um den Ort, an dem man sich entspannt und zufrieden fühlt.

    Wie weit im Voraus sind Sie verplant?

    Anna Thorvaldsdottir: In den letzten acht, neun Jahren hatte ich immer einen Fünfjahresplan. Gerade arbeite ich an einem Stück für die Carnegie Hall, bald wird ein neues Streichquartett uraufgeführt, das im Oktober fertig wurde. Und es gibt einige Orchesterwerke am Horizont.

    Hat Sie schon mal jemand mit der Filmmusik-Komponistin Hildur Godnadottir verwechselt und bei Ihnen einen Soundtrack für Hollywood bestellt?

    Anna Thorvaldsdottir: Lange bevor Hildur mit Filmmusiken begann, hat man mich oft dafür angefragt. Es kam aber nie dazu. So hat uns aber noch niemand verwechselt, wegen „-dottir“ im Nachnamen, aus Island, Frau. Das bleibt hoffentlich auch so.

    Sie können es ja beurteilen: Welcher Konzertsaal ist besser: Harpa in Reykjavik oder die Elbphilharmonie in Hamburg?

    Anna Thorvaldsdottir:Sie sind beide wunderbar. Für mich ist das kein Wettbewerb.

    Konzert: 9.2. 20 Uhr, Musik von Thorvaldsdottir und Abrahamsen. Karten ab 10 Euro. Infos: www.elbphilharmonie.de