Hamburg. In Hamburg trafen sich fast alle Finalisten des Buchpreises zum gegenseitigen Vorlesen. Wie sich Quereinsteiger Strunk da schlug.
Was ist der Deutsche Buchpreis? Ein Wettkampf mit Büchern! Seit 2005 wird er vergeben und soll den deutschsprachigen Roman des Jahres küren. Vermarktet und in den Mittelpunkt gerückt werden aber nicht nur das Siegerbuch und dessen Urheber, sondern insgesamt 20 Longlisttitel. Nicht viel in Bezug auf die Menge an jährlich erscheinenden Novitäten. Und doch eine kaum überblickbare Kollektion gegenwärtiger literarischer Produktion.
Für unerschrocken Ambitionierte gab es jetzt im sechsten Jahr in Folge die Gelegenheit, im Speeddating eine Fülle von Vorschlussrunden-Kandidaten in Hamburg kennenzulernen. Alle 20 Longlister wurden vom Literaturhaus eingeladen, 15 folgten dem Ruf diesmal, so viel wie noch nie. Und zwei von ihnen, die Hamburgerin Kristine Bilkau und der Hamburger Heinz Strunk, hatten keine lange Anreise.
Heinz Strunk: Im Literaturhaus in Hamburg einer unter vielen
Strunk war bereits im vergangenen Jahr nominiert, und anders als 2021 wollte sich der Universalkünstler die Mehr-als-sechs-Stunden-Party nicht entgehen lassen. Das war dann mal eine Versuchsanordnung: Der Neu-Schlagerfuzzi („Breit in 100 Sekunden“), Schauspieler, Satiriker und schreibende Quereinsteiger als Liveteilnehmer im Hardcore-Literaturbetrieb – vielleicht wird er uns später mal erzählen, wie er es so fand.
Sein „Sommer in Niendorf“ ist einer der Bestseller der Saison, das wird wohl ein Nachteil sein im Hinblick auf die finale Kür des Gewinners am 17. Oktober in Frankfurt. Im Literaturhaus war Strunk einer unter vielen und hatte 20 Minuten, um sein Werk vorzustellen. Er kam, als Headliner, natürlich ganz zum Schluss.
Lesung im Literaturhaus – ein Power-Marathon
Was ein Gehechel. Für alle Beteiligten, also auch Gastgeber Rainer Moritz und seine Co-Moderatorin Julia Westlake vom NDR, die abwechselnd auf der schmalen Bühne Dienst am Buch taten, während Autorinnen und Autoren sowie Wassergläser im Akkord an ihnen vorbeirauschten – gemessen am Tempo, das Literaturveranstaltungen sonst anschlagen.
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Ein Power-Marathon, übrigens mit Bequemlichkeitsvorteilen für alle Zuschauerinnen und Zuschauer, die auf dem Sofa die ellenlange Buchpreis-Nummernrevue streamten und zwischendurch auch mal auf den Balkon gehen konnten oder ähnliches. Die im Saal am Schwanenwik brauchten Sitzfleisch. Und bei aller grundlegenden Verschwimmerei der Inhalte, der notwendigen geistigen Abmeldung im ein oder anderen Moment (natürlich ist das alles auch eine Zumutung, aber eine gehaltvolle): Man nahm doch einiges mit. Zum Beispiel kurze Eindrücke von den Leuten, deren Namen über den jeweiligen Titeln auf den Buchdeckeln stehen. Tendenz: Alle vom Geist durchdrungen und der Ernsthaftigkeit des Schreibens. Aber die eine ist halt ernster als der andere.
Deutscher Buchpreis 2022: Kaum überblickbarer Themenreichtum
Was sind die Themen der Gegenwartsliteratur? Das Ende der Welt, zum Beispiel in Theresia Enzensbergers Roman „Auf See“, wo die Menschen autark in einer schwimmenden Stadt in der Ostsee leben, während auf dem Festland die Gesellschaft längst zerbrochen ist. Die Welt im Krieg, wie in Gabriele Riedles Reporterroman „In Dschungeln. In Wüsten. Im Krieg“. Die Existenz in der Mischidentität, wie in Fatma Aydemirs deutschtürkischer Saga „Dschinns“. Oder das ländliche Österreich, von dem Reinhard Kaiser-Mühlecker in „Wilderer“ erzählt. Oder die Art von Leben, die im Nullbereich zwischen Männlichsein und Weiblichsein stattfindet wie in Kim de l’Horizons non-identitär beleuchteter Familiengeschichte „Blutbuch“. Kim de l’Horizon aus der Schweiz war beeindruckend, eine echte Entdeckung, und sang sogar zwischendurch.
Es sind, allermeistens, gefällige, gekonnte und, im Wortsinne, genießbare Texte für den Buchpreis 2022 nominiert. Den Reaktionen des Saalpublikums nach zu urteilen, darf sich Jochen Schmidt mit seinem tief in die eigene Kindheit und die weltanschaulichen Verstrickungen Deutschlands hinabsteigenden Roman „Phlox“ gute Chancen auf den Preis ausrechnen.
Und schon vor Andreas Stichmanns Vorstellung seiner Clash-der-Kulturen-Kostbarkeit „Eine Liebe in Pjöngjang“ wusste man, dass dieser Roman über die Nordkorea-Reise einer Bibliotheksmanagerin unbedingt auf die Shortlist gehört. Gleiches könnte für Daniela Dröschers Porträt einer Ehefrau gelten, die in den 1980er-Jahren im Hunsrück unter ihrer Fettleibigkeit leidet – und den Fremdzuschreibungen einer Gesellschaft, die in ihrer Familie mit voller Härte widergespiegelt wird.
Heinz Strunk: Da wurden alle noch mal wach
Und wie schlug sich nun der Lokalmatador? Strunk musste ran, als es fast schon halb zwölf war. Man kann sich kaum vorstellen, dass er je später gelesen hat; seine Säuferballade von der Ostsee, „Ein Sommer in Niendorf“, weckte all die noch mal auf, die vom Literaturoverkill vorher etwas ermattet waren.
Es wurde dann besonders bei denen, die das Buch noch nicht kennen, gestaunt ob der Tristesse und gelacht, man nennt es das Strunksche Mirakel des gleichzeitigen sofortigen Depressionsabbaus, weil es halt alles auch so komisch ist. Manchmal. „Ich bin noch ganz bei mir“, hatte Strunk („Man sollte mir in Niendorf die Ehrenbürgerschaft geben, statt mich einen Nestbeschmutzer zu nennen, ich trau mich da gar nicht mehr hin und habe Angst davor, dass man mir da Schläge androht“) beim Entern der Bühne gesagt.
Geschlaucht wirkte er ein wenig nach all der Warterei, wer mag es ihm verübeln. Der Deutsche Buchpreis fördert und fordert, auch im Hinblick auf Literaturstars.