Hamburg. Der umstrittene Schriftsteller las aus seinem neuen Roman. Was schwierige Themen angeht, verfolgte die Veranstaltung ein eindeutiges Ziel.
Man hätte sich das, so rein theoretisch, fast vorstellen können. Die Antifa am Schwanenwik. Oder etwas abgeschwächter und nicht linksaußen, aber immer noch links: Anhängerinnen und Anhänger der Multikultigesellschaft, die den umstrittenen Schriftsteller beim Betreten des Literaturhauses kräftig ausbuhen.
So kam’s nicht. Weil das Literaturhaus ein zivilisierter Ort ist. Uwe Tellkamp, der Autor des „Turm“ war in der Stadt, und das war doch insgesamt schon eine gute Nachricht. Der Mann aus Dresden, der sich in der nach 2015 einsetzenden Debatte um den Zuzug von Flüchtlingen kritisch positionierte, wähnte sich danach vom Kulturbetrieb rechts liegen gelassen. Von Cancel Culture kann aber keine Rede sein, wie Tellkamps gegenwärtige Lesetour und auch die breite Rezeption seines neuen Romans „Der Schlaf in den Uhren“ in den Feuilletons beweist.
Uwe Tellkamp schien in Hamburg zu Beginn etwas verkrampft
Freilich war die Kritik in den überwiegenden Fällen verheerend. Dass der Roman eindeutig Schwächen hat, sprach Rainer Moritz, der Moderator der ausverkauften Veranstaltung im Literaturhaus, nicht an. Das ist auch unüblich in solchen Fällen, in denen ein neuer Roman vorgestellt wird; aber im Falle dieses speziellen Buchs mit der speziellen Vorgeschichte seines Autors ging es auch grundsätzlich darum, wie man solch ein heißes Eisen anpackt. Moritz entschied sich dafür, es gar nicht erst drauf ankommen zu lassen und stellte die politischen Implikationen des Buchs und die seines Schöpfers nicht in den Mittelpunkt der Veranstaltung.
Nein, es dominierte das Ungefähre der Kunst; ein Prinzip, auf das Tellkamp, der nur am Anfang des Abends etwas verkrampft zu sein schien, mit Nachdruck pochte. Tellkamp hatte es insgesamt leicht, vielleicht auch, weil ein komplexes, vielschichtiges Werk wie „Der Schlaf in den Uhren“ gar nicht allzu detailliert zu behandeln ist in einer Anderthalbstunden-Unternehmung.
Und auch, weil ihm ohne weltanschauliche Gräben überhaupt erst freizulegen ein freundlicher Empfang bereitet wurde. Literaturhäuser seien Orte der Vielfalt und des Meinungsaustauschs, schickte Moritz dem nachfolgenden Programm aus Lesung und Gespräch unspezifisch voraus. Das musste nicht ausgeführt werden, weil jeder im Saal und im Internetstream wusste, wie umstritten Tellkamp derzeit ist.
Tellkamps „Der Schlaf in den Uhren“ ist ein kompliziertes Buch
Der 53-Jährige erklärte in Umrissen sein 900 Seiten dickes Werk, das der zweite Teil einer Trilogie sein soll. Zeigte dem Publikum auf der an die Wand projizierten Zeichnung aus seiner Feder die Geographie des fiktiven Stadtstaats Treva – die Kartographie eines merkwürdigen Ortes, der an Elbe und Rhein zugleich liegt und an dem sein persönlich irgendwie aus der Bahn geworfener Held Fabian Hoffmann anfängt zu (ver-)zweifeln, während er die Verbindungen von Medien und Politik untersucht.
Ja, „Der Schlaf in den Uhren“ ist formal ein schwieriges, ein kompliziertes Buch, in dem sich selbst sein Schöpfer bei der Orientierung mit Skizzen behelfen musste. Ein Buch, das bewältigt werden muss. Tellkamps Ausführungen im Literaturhaus erhellten vor allen Dingen den Umstand, dass sich hier einer vor allem weiter missverstanden fühlt. Mehr als einmal adressierte er die Kritiker, die wenig zimperlich mit ihm umgegangen waren (und dabei im übrigen nicht immer fair).
Interessant ist in diesem Zusammenhang ist, dass Tellkamps Worten zufolge das Geschehen in dem Roman wesentlich weniger realistisch ist als weithin angenommen. So wären dann der Staat und seine Mechanik, seine in ihm waltenden Kräfte an den Schalthebeln der Macht vor allem fantastische Hervorbringungen. Komisch nur, dass man das alles notwendigerweise anders liest. Denn eine Dringlichkeit, gerade in den Teilen, in denen es um Deutschland 2015 geht, die Flüchtlingsfrage also, hat der Text eben schon.
Im Grunde eher ein Hamlet als ein Pegida-Anhänger
Tellkamp erwähnte die Migrations-Problematik, die bei ihm in deutliche Islam-Kritik mündete, überhaupt nur kurz in einem Nebensatz. Die Versuche „Schneisen in diesen Roman zu schlagen“ (Moritz) endeten verlässlich im Dickicht des Textungetüms.
Wohlwollend möchte man nur allzu gerne annehmen, dass das, was im Roman bisweilen als Ressentiment daherzukommen droht, tatsächlich eher Satire ist und Tellkamps zweifelndes Alter ego, die Romanfigur Fabian Hoffmann, im Grunde doch eher ein Hamlet ist als ein Pegida-Anhänger.
Was die Wahl der vorgelesenen Kapitel anging, erwies Tellkamp der Stadt, in der er zu Besuch war, seine Reverenz. Treva ist eine althergebrachte Bezeichnung für Hamburg, und so führte Tellkamp mit hanseatisch vornehmer Aussprache die Zusammenkunft hochwohlgeborener Reeder und anderer Wirtschaftsleute vor, einmal vor und einmal nach der Wende. Merke: Hamburg-Treva ist das Zuhause von Leuten, deren gar zu selbstbewusste Weltoffenheit nicht unkomisch in Literatur verwandelt werden kann.
Tellkamp spricht vom Triumph der Seifenoper
Tellkamp („Ich gehe von Realien aus und unternehme dann Expeditionen ins Fantastische“) gab leidenschaftlich zu Protokoll, wie sein Roman komponiert ist – mehr Doderer als Thomas Mann, weniger Plot als Alltagsbeschreibung –, sprach von „labyrinthischen Annäherungsbewegungen“ und dem Triumph der Seifenoper im modernen Roman. Ja, genau, es ging um Soapoperas, „Uwe Johnson hätte keine Probleme damit gehabt, hätte man die ‚Jahrestage‘ als eine solche bezeichnet“, sagte Tellkamp. Das ist dann doch zu bezweifeln.
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Es gehe ihm darum, zu untersuchen, wie in einem Staatsgebilde Macht entstehe, erklärte Tellkamp. Und versuchte die Lesart der meisten Kritiker, sein Roman unterstelle, dass Politik und Medien in unguter Absicht gemeinsam an Narrativen arbeiteten, auf seine Art ganz grundsätzlich und philosophisch auszuhebeln: „Wir alle erzählen uns automatisch Märchen, wenn wir die Realität benennen wollen.“
Überdies bewerte seine Figur Fabian in diesem Buch nicht, was sie bei ihrer Analyse der Zustände im Land zutage fördere. „Der Schlaf in den Uhren“ also als unparteiischer Polit-Roman? Vielleicht muss die Frage offen bleiben, bis der Abschlussband vorliegt. Im Literaturhaus war es ja eh so, dass die Kunst und ihre Uneindeutigkeit die Oberhand behielten.
Es muss ja nicht immer die Keule geschwungen werden
Tellkamp wirkte im Verlauf der Veranstaltung zunehmend gelöster, es muss ja nicht immer die Keule geschwungen werden, das gilt auf beiden Seiten. Und was das angeht, dachte vielleicht manch einer, sofern er die aufschlussreiche Fernsehdoku „Der Fall Tellkamp. Streit um die Meinungsfreiheit“ gesehen hatte, nach der Veranstaltung einmal mehr darüber nach, ob der Vorwurf stimmt, in der eher linksgewirkten Kulturszene hätten rechte Debattenteilnehmer einen deutlichen Standortnachteil. Und ob das, wenn es denn so ist, nicht allein an den Mehrheitsmeinenden liegen muss oder eben doch.
Es war Literaturhaus-Chef Rainer Moritz vorbehalten, die versöhnliche Losung der Stunde auszugeben, als er den unlängst gestorbenen Büchnerpreisträger Friedrich Christian Delius zitierte. Der hatte einst gefragt, ob es sie eigentlich noch gebe, „die Bereitschaft, gerade auch von den Meinungen sich anregen zu lassen, die man nicht hat?“
Nach Ende der Veranstaltung, vorm Signieren, bekam Uwe Tellkamp lang anhaltenden, freundlichen Applaus. Man hätte gerne gewusst, ob der mehrheitlich gesellschaftspolitischer oder literarischer Natur war.