Hamburg. Autofiktionale Erzählung eines Frauenlebens als Generationsporträt. Hierzulande ist die französische Autorin (noch) ein Geheimtipp.

Das Beste, was man über den Herrn Doktor sagen kann, ist: Er ist bei der Geburt seines Kindes dabei. Das ist unüblich Ende der 1950er-Jahre. Ob ihn vor allem die große Hoffnung in den Kreißsaal nach der Geburt seiner Tochter und endlich den innig gewünschten Sohn zu bekommen? Sie wird jedenfalls nicht erfüllt. Es ist ein Mädchen.

Laurence Barraqué aus Rouen: Sie ist die Hauptfigur dieses beeindruckenden, bedrückenden, Staunen machenden, fremden und doch ganz vertrauten Buchs, das jetzt auf Deutsch erscheint. „Es ist ein Mädchen“ (im Original „Fille“) ist das Bildnis eines Frauenlebens, die Niederschrift einer exemplarischen Generationsporträts. Genauer: ein Selbst-Bildnis, denn die Autorin Camille Laurens ist in der Disziplin des Autofiktionalen zu Hause. Seit vielen Jahren schon, in Frankreich ist die 1957 in Dijon geborene Schriftstellerin mit den Literarisierungen ihrer Vita bekannt geworden. Hierzulande ist sie irritierenderweise noch ein Geheimtipp.

Laurens: Autofiktional wie Annie Ernaux

Sie könnte einem zuletzt, wahrscheinlich, in einem der vielen Artikel über die Granddame der französischen Literatur, Annie Ernaux, begegnet sein. Und wenn nicht, liegt der Vergleich mit Ernaux nahe, die beharrlich für den Literaturnobelpreis gehandelt wird, und so biografisch wie soziologisch erzählt. Camille Laurens darf nicht länger unter dem Radar fliegen, ihre Prosa ist exakt so kraftvoll wie die der älteren Kollegin. Laurens heißt mit Geburtsnamen Laurence Ruel, und ganz unabhängig vom tatsächlichen Wahrheitsgehalt ihrer Erzählung erscheint diese authentisch, literarisch gelungen ist sie eh.

Camille Laurens: „Es ist ein Mädchen“, übers. v. Lis Künzli, dtv, 256 S., 22 Euro.
Camille Laurens: „Es ist ein Mädchen“, übers. v. Lis Künzli, dtv, 256 S., 22 Euro. © dtv Verlag | dtv Verlag

Diese Erzählung vom Mädchen, deren Vater, ein Arzt, peinliche sexistische Witze ohne selbstironische Absicherung macht, von seinen Töchtern vor allem erwartet, dass sie unbefleckt bleiben und Mädchendinge tun. Es ist ein enormer Witz, der in etlichen Beschreibungen steckt, aber die Normalität hinter der femininen Deklassierung ist eine historische Tatsache, die einen nicht nur mit einem die Belustigung fix hinter sich lassenden Unglauben konfrontiert, wenn man längst frauenbewegt den Gleichberechtigungsturbo angeworfen hat. „’Haben Sie Kinder?’, wird der Vater gefragt. ‘Nein, ich habe zwei Mädchen’, antwortet er“, heißt es einmal.

Laurens beschreibt Kindheits- und Jugendjahre

Es ist eine Besonderheit im Französischen, dass „fille“ sowohl „Tochter“ als auch „Mädchen“ bedeutet; als Junge und Sohn hat man dagegen zwei Wörter zur Verfügung. Auch derlei berichtet die Erzählerin, die besonders die Kindheits- und Jugendjahre mit Akkuratesse in den Blick nimmt. Es gibt die Spiele der Jungen und die der Mädchen; es ist eine unschuldige, sensibel re-imaginierte Annäherung des Mädchens Laurence an das scheinbar ganz andere, das männliche Prinzip.

Aber wirklich schlauer sind die Jungs nicht! Doch wie großspurig sie immer tun, und wie sie darauf bedacht sind, keine Schwäche zu zeigen. Laurences Freundin, ein frühes Opfer der weiblichen Rollenzuschreibungen, hungert sich zu Tode. Und Laurence selbst wird vom Großonkel betatscht. Ein Skandal ist das nicht, oberste Maxime: Nichts darf man draußen dringen.

„Es ist ein Mädchen“: Biografische Schmerzliteratur

Der Text nimmt Tempo auf, die Jungerwachsenen- und Erwachsenenjahre des Mädchens aus der Provinz werden schneller abgehandelt. Manches, was Camille Laurens nun auf nüchterne, berührende Weise erzählt, ist schon vorher zu autobiografisch inspirierter Schmerzliteratur geronnen. Ihr erstes Kind, einen Sohn, verlor sie nach der Geburt.

Dann wurde die Tochter Alice geboren, sie ist das Kontrastmittel zum eigenen Lebensmaterial, aus dem bei Laurens nun endgültig eine zeitgebundene Biografie wird. Alice wächst in einer anderen Epoche auf, ein Kind des neuen Jahrtausends, das auf die klassisch genannten Rollenverständnisse nichts gibt, gerade damit aber seine Mutter herausfordert. Laurence schleppt das Mädchen zum Kinderpsychologen – Diagnose: Alice trägt ausschließlich Hosen, weil sie der Mutter den verlorenen Sohn ersetzen will – und glaubt dringend daran, dass mit dem Mädchen etwas nicht stimmt.

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  • Ein Fluch der eigenen Prägung. Camille Laurens, aus deren Werk bislang immerhin die Romane „In den Armen der Männer“ und „Lieben“ auf Deutsch erschienen sind, hat mit „Es ist ein Mädchen“ ein gerade dadurch, dass es nicht aktivistisch zur Erstürmung immer noch männlicher Bastionen aufruft, explosives Buch vorgelegt. Weil es Männer zur Empathie, zum Rollenspiel auffordert, was für die älteren unter ihnen sicher eine andere Erfahrung ist als für jüngere. Verzopfte Geschlechtervorstellungen sind immer Thema, Menschen, lest dieses Buch.