Hamburg. Konzerte mit dem Gewandhausorchester Leipzig und Rudolf Buchbinder gehen durch Mark und Bein. Doch zu Beginn war Nelsons irritiert.

Zunächst „Top Gun: Maverick“ auf der großen Kino-Leinwand, und direkt danach, fliegender Wechsel, in die Elbphilharmonie, um zwei Abende lang mit Größtorchestralem aus dem Best-of-Sortiment von Richard Strauss beschallt zu werden? Tatsächlich nicht die schlechteste Konzerteinstimmung, denn die Geistesverwandtschaft zwischen diesem Komponisten und dem unkaputtbaren Action-Stehaufmännchen Tom Cruise ist durchaus erkennbar: Beide waren beziehungsweise sind extrem von ihrer Einzigartigkeit und Brillanz als Schlussstein einer epischen Tradition überzeugt – hier das klassische Blockbuster-Kino, dort die übergroße Spätromantik mit programmatischen Verweisen auf Heldentaten, Herzensbrecher oder philosophische Weltbetrachtungen von Nietzsche.

Beide, Strauss wie Cruise, setzten und bauten ihren eigenen Riesen-Egos immer wieder extrem populäre Denkmäler zum Bestaunen. Beide haben diesen nicht ganz kleinen und nicht durchgängig sympathischen Stich ins Selbstverliebte, sobald es ums Heroische und dessen schnittig inszenierte Schauwerte geht. Und, ganz wichtig, beide lassen es gern ausgiebig krachen. Weil sie es ja nun mal können. Der eine lässt sich dafür von außen an fliegende Flugzeuge schnallen, der andere schrieb Extremistinnen-Opern wie die „Elektra“ oder die „Salome“.

Andris Nelsons: In der Elbphilharmonie kurz irritiert

Und dass es als letzten Programmpunkt ausgerechnet „Ein Heldenleben“ gab, in dem Strauss als vertonter Charakter-Hauptdarsteller gänzlich unbescheiden Motive aus seinen früheren Meisterwerken zitiert, passte nun wirklich bestens zu den vielen originalgetreuen Einstellungs-Zitaten des „Top Gun“-Erstlings im aktuellen Remake. Eine Menge großes Kino also, hier wie dort.

In der physischen Statur gibt es durchaus einige Unterschiede zwischen Andris Nelsons und dem 16 Jahre älteren Hollywood-Star, aber als Dirigent verfolgte Nelsons bei seinem – durch Corona planerisch arg lädierten – Strauss-Tournee-Marathon sehr ehrgeizig sehr ähnliche Ziele: Zeigen, was geht. Hören lassen, was so alles drin ist. Mal so richtig den Strauss rauslassen.

Eigentlich sollte das in jeweils zwei Konzerten mit Nelsons zwei Orchestern auch in der Elbphilharmonie passieren. Doch das Boston Symphony sagte seinen Part ab, die Münchner Philharmoniker sprangen ein (für Lise Davidsen sang Rachel Willis-Sørensen die „Vier letzen Lieder“). Dann sagte Yuja Wang als Solistin für die „Burleske“ ab, Rudolf Buchbinder, allzeit bereit und stets verlässlich virtuos, sprang ein. Etwas Lack zumindest war also ab, und dass der Große Saal am Sonntag beim letzten dieser vier Abende deutliche Leeren in den Sitzreihen hatte, schien Nelsons bei der ersten Wahrnehmung kurz zu irritieren.

Elbphilharmonie: Wie „Mission Impossible“-Stunt

Nelsons wäre allerdings nicht Nelsons, wenn ihn diese Situation längerfristig aus seiner Interpretations-Bahn geworfen hätte. Die war längst genauestens festgelegt, und mit einem derart gründlich durchtrainierten Klangkörper wie dem Gewandhaus-Tutti kann man’s ja auch machen, ohne sich sofort blaue Flecken zu holen.

Mit „Don Juan“ ging es jedenfalls schon mal beachtlich los. Ein Stück wie ein „Mission Impossible“-Stunt: Das Eingangs-Thema hat sich angstfrei ins Rampenlicht zu stürzen, Blech und Schlagwerk und überhaupt die ganze Maschinerie startet, elastisch federnd und stolz, von 0 auf 100 durch, bevor kurz das erste sanfte Nachdenken darüber einsetzt, welchen aufbrausenden Größenwahn man da eigentlich gerade fabriziert hat.

Obwohl Nelsons’ Gestik und Wegweisung nicht nach allzu viel Aufregung oder akutem Korrekturbedarf aussieht (eine Stärke, die er mit dem legendären Taktstock-Stoiker Strauss teilt), ist er durchaus ein Genussmaestro, der vermitteln will und kann, wie intensiv diese Musik am Hirn vorbei direkt ins vegetative Nervensystem geht.

Elbphilharmonie: Gekonnt aufgeschäumte Sättigungsbeilage

Mit der nur selten in Konzerten zu hörenden „Burleske für Klavier und Orchester“ bietet sich ein interessanter Kontrapunkt zu diesem Schaulaufen für alle Instrumentengruppen. Der Klavierpart ist schwer um des Schwerseins willen, der Rest ist viel noble, gekonnt aufgeschäumte Sättigungsbeilage. Buchbinder weiß das und lässt sich gekonnt auf den Drahtseilakt ein, aus wenig Substanz viel Show machen zu sollen.

Durch den Beginn von „Also sprach Zarathustra“ wird man gründlich daran erinnert, warum der Große Saal der Elbphilharmonie eine so klangwuchtige Orgel hat. Denn noch bevor die Trompeten sich mit dem legendären Quint-Schritt des ersten Naturmotivs zu Wort melden, dröhnt etwas brachial Tiefes sehr schön nicht nur durch den Raum, sondern ebenso durch Mark und Bein. Auch in dieser Sinfonischen Dichtung nimmt Nelsons immer wieder die Tempi aus dem Erzählfluss, um nachsinnend sehnsüchtig der Kunst des Moments hinterherzuhören, um ihn festhalten zu wollen, obwohl es doch nie geht, weil die Zeit nun mal so verrinnt, wie es einen Abend später in der „Rosenkavalier“-Suite wortlos (und nicht immer angemessen elegant walzernd) anklingen wird.

Andris Nelsons baut die Spannungsbögen klug auf

Diese Schöne-Stellen-Sammlung präsentiert Nelsons, als würde man kopfüber in einen Topf mit Wiener Mehlspeisen fallen, ein einziger Zuckerschock, der aber vom Feinsten. Für „Macbeth“ hatten die Leipziger auf schartig und dramatisch verfinstert umgeschaltet. Abschluss und Showdown ist das „Heldenleben“, bei dem Nelsons so smart ist, die Spannungsbögen klug aufzubauen und es mit Strauss’ Eigenlob nicht allzu sehr zu übertreiben.

Nächstes Nelsons-Konzert: 6. Juni, 20 Uhr mit den Wiener Philharmonikern. Gubaidulina „Märchenopern“, Schostakowitsch 9. Sinfonie, Dvorak 6. Sinfonie. Elbphilharmonie, Gr. Saal. Restkarten.