Hamburg. Der Startenor bekam schon stürmischen Beifall, bevor er das erste Lied anstimmen konnte. Ein Ärgernis gab es dennoch.
Die Voraussetzungen waren nicht so günstig. Zeitlich parallel kickten Freiburg und Leipzig zur besten Sendezeit im Fernsehen um den DFB-Pokal, und die Elbphilharmonie war durch das Internationale Musikfest mit den Münchner Philharmonikern und Stardirigent Andris Nelsons besetzt. So musste der peruanische Startenor Juan Diego Flórez in die gute alte Laeiszhalle „ausweichen“. Die ist aber für Sänger akustisch die bessere Adresse, spätestens seit Tenor Jonas Kaufmann die Elbphilharmonie-Akustikmängel eklathaft thematisiert hat.
Juan Flórez: Langer Vorschuss-Applau in der Laeiszhalle
Rappelvoll war die Laeiszhalle zwar nicht, jedoch gut besucht. Und für Stimmung sorgte Juan Diego Flórez erst einmal selbst, aber auch eine peruanische Fangemeinde. Schon als der angenehm bescheidene Sänger auf die Bühne kam und noch keinen einzigen Ton gesungen hatte, bekam er ungewöhnlich langen Vorschuss-Applaus – am Ende gab es dann kein Halten mehr: stürmischer Beifall im Stehen, lautstarke Pfiffe und Gejohle. Spannend wie beim DFB-Pokal-Finale war es jedenfalls.
Juan Diego Flórez kam diesmal sozusagen pur. Kein Riesenorchester, das mit Klangfarbenzauber für Effekt sorgt, sondern „nur“ ein Pianist, noch dazu ein exzellenter. Der Italo-Amerikaner Vincenzo Scalera zauberte einen so delikaten Anschlag, vom fein getupften Pianissimo bis zum großen opulenten Klang, dass man das Orchester jedenfalls nicht vermisste. Und schön, dass Scalera auch zwei kleine charmant-delikate Solostücke von Rossini und Verdi spielte.
Flórez deckt vier Jahrhunderte Musikgeschichte ab
Flórez deckte in seinem Rezital vier Jahrhunderte (17.-20.) Musikgeschichte ab. Für Kenner der Alten Musik ist „Amarilli, mia bella“ (Amarilli, meine Schöne) von Giulio Caccini ein Klassiker, aber bestimmt nicht für auf italienischen Belcanto, Koloraturen und hohe Cs fixierte Flórez-Fans. Die staunten nicht schlecht über das um 1600 entstandene intime Liebeslied, in dem ein schmachtender Mann, seine Schöne bittet, ihm die Brust zu öffnen und in sein Herz zu schauen. Für das darauffolgende fanfarenartige „Vittoria“ (Sieg) von Giacomo Carissimi aus derselben Zeit gab den ersten Szenenapplaus.
Das 18. Jahrhundert hatte Flórez gleich am Anfang präsentiert mit einer Arie aus einer Gluck-Oper. So gab es dann nach Carissimis „Vittoria“ einen Sprung von 200 Jahren zu drei Titeln Vincenzo Bellinis. Da hörte man in „Per pietà, bell’idol mio“ (Gnade, mein schönes Idol), wie der Sizilianer Bellini seine Herkunft nicht verleugnet und Folkloristisches einstreut, aber in „La ricordanza“ (Erinnerung) die ganze Gefühlspalette aufblättert – von himmelhochjauchzendem Schwelgen bis zu Tode betrübtem, fast verklingendem Pianissimo oder dramatischem Auftrumpfen. Da ist Juan Diego Flórez in seinem Element. Er kann Bellinis lange Melodiebögen mit irrsinniger Spannung zelebrieren, er hat zig dynamische Abstufungen, und er kann seinen Tenor so richtig strahlen lassen.
Furore machte Flórez schon als 23-Jähriger beim Rossini Festival in Pesaro. Dass er aber nach weiteren mehr als 20 Jahren noch immer einer der besten Rossini-Tenöre ist – sprich sich die nötige Leichtigkeit und Flexibilität für Rossinis knifflige Koloraturen bewahrt hat -, bewies er mit zwei Arien aus „La pietra del paragone“ (Der Stein der Weisen) und „Semiramide“. Zur Pause jedenfalls hatte Juan Diego Flórez schon alle Herzen gewonnen, aber es kam noch besser.
Flórez nimmt einen emotional mit, aber er lässt noch Raum
Sympathisch ist bei Flórez, dass er ohne Show auskommt, er singt einfach, und das fantastisch. Klar ist sein strahlender, manchmal mit ein bisschen Härte ausgestatteter Tenor Geschmackssache, aber für manche der exponierten Partien in der zweiten Hälfte brauchte der Mann auch Kraft.
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Nicht bei den drei Liedern von Francesco Paolo Tosti, da war wieder Charme gefragt, etwa bei „Aprile“. Wer sich jetzt fragt, wer Tosti ist, der erfährt im immerhin zehn Euro teuren Hochglanz-Programmheft nur die Lebensdaten (1846-1916) und der ärgert sich auch ein bisschen, dass leider rein gar nichts zu den einzelnen Stücken und deren Komponisten zu finden ist. Den einen oder anderen interessiert schon, was da eigentlich gesungen wird.
Juan Flórez: Als ob "Nessun dorma" ein Spaziergang wäre
Sei’s drum. Als Juan Diego Flórez sich bei Donizetti, bei Verdi und am Schluss bei Puccini in schwindelerregende Tenorhöhen schwang, zählte nur noch die Musik. Flórez nimmt einen in jede Emotion mit, aber er überwältigt einen nicht, er lässt noch Raum. Und bei den Zugaben ging’s noch einmal heiß her: Nicht nur die peruanische Fangemeinde stand kopf, als Flórez sich selbst auf der Gitarre begleitete und „Guantanamera“ und „Cucurrucucú paloma“ sang und sogar zum Mitsingen animierte. Da kam wirklich eine besondere Stimmung auf. Kann man das noch toppen? Flórez konnte!
Danach servierte er Verdis „La donna è mobile“ (Rigoletto), gefolgt von den neun hohen Cs aus Donizettis „Ah! mes amis“ (Die Regimentstochter) und dann noch Puccinis „Nessun dorma“ (Turandot), so als ob es ein Spaziergang wäre. Wenn sich schwierigste Musik so unprätentiös und sympathisch zeigt, dann ist das große Kunst!