Hamburg. Feiern ohne Belästigungen: Immer mehr Festivals und Clubs setzen auf „Awareness“-Teams, um Missbrauch vorzubeugen und Hilfe zu leisten.
Sommer, Sonne, Alkohol. Drogen. Enthemmung, Zivilisationsabkehr, Erlebnishunger. Dutzende Lieblingsbands und -DJs an einem Ort. Zehntausende Männer, Frauen, Diverse. Alle geeint durch das Gefühl von Freiheit, Übermut. Mal die Sau rauslassen. Mal ein Schwein sein. Im besten Fall, eigentlich der Normalfall, sind das die schönsten Tage eines Jahres beim „Wacken Open Air“, beim „Hurricane“-Festival, beim „Deichbrand“ oder beim „MS Dockville“-Festival.
Aber es kann auch schiefgehen. Ein verstauchter Knöchel nach dem achten Bier. Aber auch eine grabschende Hand in der Menge, beim Crowdsurfen. Am Wegesrand von Männergruppen hochgehaltene Schilder Marke „Titten = 1 Bier“. Oder die Frage, ob man nicht mit diesem oder jenen Musiker backstage „feiern“ möchte. Alles schon gesehen und erlebt.
Festivalsommer: Frauen geben an, auf Festivals bereits sexuell belästigt worden zu sein
Eine Umfrage unter 3500 britischen Festivalbesuchenden im Jahr 2018 ergab, dass 43 Prozent der weiblichen Befragten unter 40 Jahren bereits auf Festivals sexuell belästigt wurden. Jährlich geraten Festivals durch einschlägige Vorfälle in die Schlagzeilen: „Bråvalla“ in Schweden 2017, „Schlossgrabenfest“ in Darmstadt 2016 und 2017, „Summer Breeze“ in Dinkelsbühl 2022. „Bråvalla“, das bis dahin größte Musikfestival in Schweden, findet nach den gehäuften Übergriffen 2017 gar nicht mehr statt.
Diese Übergriffe gab es auf den Campingplätzen und in der Fanmenge, nicht backstage. Aber auch bekannten Musikern werden nach wie vor Grenzüberschreitungen nachgewiesen oder vorgeworfen, um schwere Missbrauchsvorwürfe ging es etwa bei US-Rockstar Marilyn Manson.
Und jetzt Rammstein-Sänger Till Lindemann: Schwere Vorwürfe, dass er nicht nur ausgeklügelte Beschaffungsmaßnahmen für Pre-, Während- und Aftershow-Sex organisieren ließ, sondern auch übergriffig wurde, stehen im Raum. Sie weisen auf immer noch vorhandene Mechanismen hin, die man im Popgeschäft für weitgehend verschwunden hielt. Und es wirft auch einen Schatten auf den Festivalsommer.
Ausfälle, wie sie Rammstein bei den eigenen Shows vorgeworfen werden, scheinen in der eng getakteten, dicht bevölkerten und auf engstem Raum aufgebauten Infrastruktur eines Festivals (2013 spielte Rammstein zuletzt in Wacken, 2016 auf dem „Hurricane“ in Scheeßel) kaum möglich. Allerdings ließ das kanadische „Quebec Festival“ am Mittwoch über „Le Journal de Québec“ verlauten, dass Rammstein dort 2010 gezielt „Frauen für eine Aftershow-Party rekrutierte“, was der Band von der Festivalleitung untersagt worden wäre.
Mit „Awareness“-Konzepten soll Übergriffigkeit eingedämmt werden
Um Sicherheit wie subjektives Sicherheitsgefühl und die allgemeine Aufmerksamkeit und Rücksichtnahme zu steigern, haben viele Open Airs und in Hamburg das Reeperbahn Festival und zahlreiche Clubs (unter anderem Molotow, Uebel & Gefährlich, Hafenklang) in den vergangenen Jahren verschiedene Maßnahmen unter dem Stichwort „Awareness“ (also: Bewusstsein, Aufmerksamkeit, Achtsamkeit) eingeleitet: Teams und feste Ansprechpartnerinnen und -partner, an die sich Feiernde wenden können, wenn sie in unangenehme oder gefährliche Situationen geraten. Es geht darum, sichere Plätze schaffen. Und Aufklärungsarbeit zu leisten.
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Es ist mittlerweile Usus auf dem Kiez und auch bei Festivals, vor allem mit hohem Elektro-Anteil und DJ-Programm rund um die Uhr, dass man sich keine Drinks ausgeben oder offen stehen lässt, dass man nicht für eine angebotene Bahn Kokain mit Fremden in eine Klokabine geht, dass Frauen nur in Gruppen ausgehen. Wenn ab 4 Uhr der „Herrenüberschuss“ steigt, die Haie über die Tanzfläche patrouillieren und im schlimmsten Fall wahllos anbaggern und bedrängen, spürt man, wie der „Vibe“ sich ändert. Unwohlsein. „Awareness“-Teams steuern dagegen mit Präsenz und offenen Augen. Wer Unwohlsein auslöst, fliegt raus.
Das „Dockville“-Festival hat bereits seit vier Jahren ein „Awareness“-Team
„Auf unseren Veranstaltungen sollen sich alle sicher und wohlfühlen können. Wie die restliche Gesellschaft sind diese aber nicht automatisch frei von Grenzüberschreitungen, Diskriminierungen und Gewalt. Also arbeiten wir dagegen an: Das ist Awareness-Arbeit“, sagt Eike Eberhardt von der Agentur Kopf und Steine, die in Hamburg die Festivals „Dockville“, „Spektrum“, „Habitat“ und „Vogelball“ organisiert, die jährlich über 100.000 Besuchende anziehen. Zusammen mit der bundesweit arbeitenden Initiative Act Aware werden auf den Festivals seit vier Jahren Awareness-Konzepte entwickelt und immer weiter ausgebaut.
Dazu gehören Rückzugsräume und die Schulung und Weiterbildung der Mitarbeitenden, Dienstleistenden und Festivalcrews unter der ersten Prämisse, das „einzig die betroffene Person entscheidet, was sie als Gewalt oder Diskriminierung empfindet. Wir stellen das Erleben von Betroffenen nicht infrage und glauben ihnen.“ Auch für das Festivalpublikum werden Regeln im Netz und vor Ort gut sichtbar kommuniziert. Nur ein eindeutiges „Ja“ heißt „Ja“, keine Toleranz für Rassismus, Sexismus, Diskriminierung, verbale und körperliche Belästigung und Gewalt. Mehrere erkennbare feste und mobile Teams sind für Aufklärung, Kommunikation und auch mit wachen Augen auf dem Festivalgelände.
Festivalsommer: „Wo geht’s nach Panama“ – dieser Satz ist auf Festivals ein Hilferuf
Auch für die Bands und DJs gilt eine Selbstverpflichtung, die Festivalregeln einzuhalten. „Rammstein ist ein schockierender und drastischer, aber sicherlich kein Einzelfall. Ein umfassendes Awareness-Konzept ist für alle Veranstaltungen wichtig und richtig“, sagt Eike Eberhardt, „wir tragen dafür Sorge, dass Grenzüberschreitungen weder vor noch auf noch hinter der Bühne stattfinden, Rammstein hin oder her. Dennoch wünschen wir uns, dass dieses unheimliche Thema nun nicht nur bei uns diesen Stellenwert erhält, sondern auch bei anderen Festivals, Kulturveranstaltungen und Events.“
Im Zuge der Rammstein-Vorfälle schlug Familien- und Frauenministerin Lisa Paus (Grüne) unter anderem Awareness-Teams bei Konzerten und Festivals vor. Dabei sind ihr nicht wenige Veranstaltungen und die Organisierenden dahinter längst voraus. Zum Beispiel beim am 16. Juni beginnenden „Hurricane“-Festival in Scheeßel. Das von der in Hamburg ansässigen Agentur FKP Scorpio („Southside“, „Elbjazz“, „Deichbrand“, bis 2017 auch „Bråvalla“) veranstaltete Open Air führte 2017 den Satz „Wo geht’s nach Panama?“ ein.
2000 Personen stehen beim „Hurricane“ als Ansprechpartner zur Verfügung
Wer sich mit dem auch im Festivallärm schnell verständlichen Satz beim Personal (Gastronomie, Ordnungsdienst, Polizei, Rettungsdienste) meldet, wird umgehend ohne Nachfragen in einen gesicherten Bereich gebracht, wo gegebenenfalls weitere Maßnahmen besprochen werden: Seelsorge, Sanitäter, Telefonat, Anzeige bei der Festival-Polizeiwache.
„Insgesamt weisen wir beim Hurricane rund 2000 Personen als Ansprechpartner für ,Panama’ aus – mit einem Armband und Badge, damit sie gut zu erkennen sind. In diesem Jahr haben wir das Konzept außerdem um Awareness-Teams und einen Safe Space erweitert, um noch mehr Sicherheit und bessere Ansprechbarkeit zu gewährleisten“, sagt ein Sprecher von FKP Scorpio, „Das Konzept ist ein Erfolg, wir haben sehr gute Rückmeldungen erhalten. Am häufigsten nutzen Menschen das Angebot, die sich aus unterschiedlichen Gründen nicht wohl oder überfordert fühlen und einfach nur einen Moment zum Durchatmen benötigen.“
Rammstein spielte seit 1997 viermal auf dem „Hurricane“-Festival
„Vor und hinter der Bühne waren unsere Mitarbeitenden immer für das Thema sensibilisiert. Unsere Bemühungen in diesem Bereich haben nichts mit der aktuellen Situation zu tun“, sagt FKP Scorpio zu den Rammstein-Vorwürfen. Die Band spielte 1997, 2005, 2013 und 2016 in Scheeßel. „Die geäußerten Vorwürfe schockieren uns natürlich bis ins Mark. Auch, wenn ein Festivalauftritt grundsätzlich nicht mit einer Tour-Show von Rammstein vergleichbar ist, werden wir die weitere Entwicklung genau beobachten und gehen davon aus, dass die Branche die richtigen Schlüsse ziehen wird.“
Auch das „Wacken Open Air“, Gastgeber für Rammstein 2013, hofft auf eine „hohe Sensibilisierung für dieses wichtige Themenfeld, es ist ein ständiger Baustein in unserer Arbeitsphilosophie. Jeder, der für und auf dem „Wacken Open Air“ arbeitet, muss dies verinnerlicht haben“, sagt Wacken-Chef Thomas Jensen. „Wir haben das große Glück, die besten Fans der Welt zu haben, eine über Jahre gewachsene Metal-Familie, die jedes Jahr auf dem ,Wacken Open Air‘ zusammen nach Hause kommt, um ihre gemeinsame Leidenschaft auszuleben und die Zusammengehörigkeit zu feiern. Das wissen wir sehr zu schätzen, da innerhalb der Community selbst bereits sehr aufeinander geachtet wird.“
Festivalsommer: Das „Wacken Open Air“ hat seit 2010 professionelles Seelsorge-Team
Begleitend zur eng verbundenen Metal-Familie gibt es aber seit 2010 in Wacken auch ein professionelles Seelsorge-Team und ständiger Kontakt mit den Fans über „Kommunikationsmittel wie Social-Media-Kanäle, Push-Nachrichten über die Wacken-App, Informationstexte auf den Screens, Banner auf dem Veranstaltungsgelände und die beständige Sensibilisierung des Personals“, sagt Jensen.
Es ist alles bereit auf dem „Holy Metal Ground“ in Wacken, auf dem Eichenring in Scheeßel und im Dockville-Uferpark. Genug Platz, um mit Zehntausenden Fans, Hunderten Bands und DJs zu feiern, zu tanzen, die Haare zu schütteln und das eine oder andere Getränk zu verschütten. „Awareness“ heißt hier zuerst, auf sich und die Mitmenschen zu achten, ob vor, auf oder hinter der Bühne. So kann der Sommer kommen.