Hamburg. Die Clubs füllen sich mit Fans, auf den Bühnen spielen tolle Bands – und Frauen sind in der Überzahl. Die Festival-Highlights.

Alle Daumen gehen nach oben, als das englische Sextett Low Hummer beim Reeperbahn Festival im Drafthouse am Hans-Albers-Platz seinen melodischen Post-Punk entfesselt – zumindest auf der Bühne. Die Band aber hört sich nicht selbst und signalisiert dem Mischer, doch noch ein wenig nachzupegeln. Trotzdem hat das blutjunge Ensem­ble alle Daumen hoch verdient. Die Songs sind gut, die Ausstrahlung lässig in Jogger-Lumpen, und die Gitarristin, die Bassistin und die Keyboarderin zeigen auch hier beim Reeperbahn Festival, dass sich eine Zeitenwende in Rock und Pop andeutet.

Die alten Helden, die großen Stadion- und Arenen-Namen wie Bruce Spring­steen, AC/DC, Metallica, Rolling Stones und andere, die sich um die derzeitigen Krisen im Popgeschäft keine Sorgen machen müssen, haben nicht mehr allzu viele Jahre auf der Uhr. Und es wird nicht mehr viele geben, die in diese Dimensionen vorstoßen werden, zu verschieden, zu kleinteilig, zu divers sind Trends und Geschmäcker geworden. Das haben selbst Traditionalisten wie der US-Gitarrenbauer Fender erkannt. Statt auf ergraute Rocker setzt man dort bei den Werbegesichtern auf junge weibliche Namen, auf Saitenkünstlerinnen mit afroamerikanischem und lateinamerikanischem Hintergrund.

Reeperbahn Festival: Frauen sind in der Mehrheit im Festival-Programm

Während Elektro-Pop-Crossover noch die Sounds der Stunde bestimmt, macht sich eine neue Generation bereit, wieder handgemacht Musik zu kreieren wie die US-amerikanische Bassistin, Sängerin (und Fender-Testimonial) Blu DeTiger, die auf dem Kiez am Freitag im Sommersalon und im Knust spielt. Und wo man beim Reeperbahn Festival auch hinschaut: Überall spielen Frauen und singen nicht nur.

Die dänisch-färöische Sängerin Brimheim im Indra, die schottische Nu-Soul-Sängerin Brooke Combe im Moondoo oder die Berliner Traumpop-Songschrei­berin Charlotte Brandi im Nochtspeicher begleiten sich auf der Elektrischen. Und auch wenn ein Mann am Mikro steht, wie der am Donnerstag kurzfristig ins Programm gerutschte Sebastian Madsen im Bahnhof Pauli, wird er von den Multiins­trumentalistinnen Lisa Who und Anne de Wolff flankiert.

Die internationale Initiative „Key­change“, die sich für ein ausgeglichenes Geschlechterverhältnis im Musikgeschäft einsetzt, kann also bis Sonnabend zufrieden auf das Reeperbahn Festival und seinen Frauenanteil von 55 Prozent schauen. Wobei das natürlich für die Festivalfans nur zum Hintergrundrauschen, zu bei den Gesprächsrunden des Fachpublikums ausgetauschten Studien gehört. Trotzdem eine schöne Entwicklung.

Reeperbahn Festival: Am Donnerstag wird es schon eng in den Clubs auf dem Kiez

Das Festival selbst ist von der Atmosphäre her wieder fast im vorpandemi­schen Jahr 2019 angekommen. Am Mittwoch sind die Clubs noch übersichtlich gefüllt, auch weil die Chemnitzer Rockstars von Kraftklub mit ihrem Überraschungskonzert und ihren Gästen Bill Kaulitz und Casper vor dem Mojo Club die Reeperbahn komplett lahmlegen. Viele mit Festivalbändchen bleiben da stehen – oder kommen nicht durch.

Gut besucht: Der Spielbudenplatz beim Reeperbahn Festival
Gut besucht: Der Spielbudenplatz beim Reeperbahn Festival © Marcelo Hernandez

Am Donnerstag aber wird es schon eng. Im Nochtspeicher zum Beispiel bei den Post-Punkern VLURE aus Glasgow. Auf melodischen, elektronisch angereicherten und an Blondie erinnernden Melodien zetert der Sänger mit der einschüchternden Aggressivität eines schottischen Fußball-Althauers. Schräg, aber gut. Das Berliner Pendant dazu ist das Leipzig-Berliner Indie-Duo KLAN im Bahnhof Pauli, wo Sänger Michael Heinrich den Saal mit rauer Stimme und maximalem Energieniveau in der Hand hat.

Die Festival-App hilft beim spontanen Clubhopping

„Du bist immer nur am Handy/ich bin traurig und frustriert/denn du bist online/kann es vielleicht sein, dass du mich ignorierst“, die Songzeilen von Sebastian Madsen sind omnipräsent beim Reeper-Fest. Gefällt eine Band, verweilt man im Club. Ansonsten wird hastig auf der Festival-App auf dem Smartphone gewischt, wann und wo die nächste Band interessanter sein könnte. Ab durch die Menge, durch die Sauftouristen, durch die Fachpublikum-Trauben in die nächste Schlange, zum nächsten Beat. Riff. Refrain.

So trifft man eher zufällig auf Ian Fisher: Ganz leise steht das Publikum auf dem Spielbudenplatz und lauscht: Mit Beanie-Mütze hat der Indie-Musiker auf der Bühne postiert, lässig, bodenständig – und bringt die Zuschauer mit ruhigen und aufgeregteren Pop- und Folk-Songs zum Mitwippen. „Thanks for listening“, sagt der gebürtige Amerikaner lächelnd, „I thought everyone would be drunk and talking.“ Er hat damit gerechnet, dass alle betrunken seien. Dann überrascht er mit einem deutschen Song: In „Koffer“ erzählt der weit gereiste Weltenbummler von seiner Hassliebe zu Berlin.

Bands aus 38 Nationen sind zu erleben - und aus Hamburg

So einige Hasslieben hat auch Paula Hartmann: „Jedes uns’rer Lieder fühlt sich an wie Camel Blue auf meinem Bauch/Lippe aufgerissen und ich wünsch’ dir die beschissene Leere auch“, singt die Hamburgerin im Uebel & Gefährlich mit Kraft wie mit Gefühl. Sie trifft den Geschmack des jungen Publikums und mixt Rap mit elektronischen Beats und tiefgründiger Lyrik.

Sie ist selbst erst 21 Jahre alt und weiß ganz genau, wovon sie spricht, wenn sie von einer „Nacht lang ohne Schlaf“, von „Billigwein“ in der S-Bahn und Liebeskummer singt. Wie rau, direkt und doch berührend das auf die Menschen vor der Bühne wirkt, sieht man an den Reaktionen: von schaukelnden Feuerzeugen über den Köpfen bis zu Moshpits ist alles dabei.

Das ist live. Auch bei Ferdinand Kirch alias Nand im Mojo Club. Gleich nach den ersten Klängen macht das DJ-Pult Probleme. Schnell zückt der 23-Jährige seine Trompete und spielt „La vie en rose“ – Jubelrufe aus dem Publikum. Dabei macht Nand mit Songs wie „Wohlfühlen“ eigentlich eher eine Mischung aus Indie- und Elektro-Pop. Aber auch die kommt hervorragend an, nachdem das DJ-Pult ausgetauscht ist. Der sympathische Würzburger weiß: „In solchen Situationen Ruhe bewahren und ehrlich sein, sonst ist man am Ende traurig.“ Traurig ist keiner im Mojo, und als anschließend dort der französische DJ und Produzent French 79 Daft-Punk-Pop mit House und Progressive brisant wie mitreißend vermischt, tanzt alles das Bergfest des Reeperbahn Festivals. Die Hälfte ist geschafft, das Meiste verpasst, aber vieles erlebt.