Wacken/Hamburg. Beim herbeigesehnten Neustart des Festivals treffen Legenden auf starke Newcomer, doch auch Wacken hat ein Problem.

Wenn man den sozialen Netzwerken glauben darf, dann kann man das Wacken Open Air dieses Jahr vollkommen vergessen. Dass die Einlasssituation chaotisch sei, las man am Mittwoch auf Facebook, außerdem sei die Idee, jegliche finanzielle Transaktion auf dem Festivalgelände bargeldlos durchzuführen, nicht durchdacht.

Die Zufahrtsstraßen zum Dörfchen Wacken im schleswig-holsteinischen Kreis Steinburg seien heillos überlastet – selbst die schottische Powermetal-Band Gloryhammer habe es am Mittwoch nicht rechtzeitig zu ihrem Auftritt geschafft. Außerdem sei der Shuttlebus zum Bahnhof Itzehoe überteuert, zumal dieser ebenfalls im Stau steckenbleibe. Am schlimmsten allerdings: Das mittelmäßige Line-up; Headliner wie der Rammstein-Sänger Lindemann oder die amerikanischen Nu-Metal-Superstars Limp Bizkit hätten abgesagt. Wobei Letzteres freilich die Lordsiegelbewahrer der reinen Metal-Lehre schon wieder freut.

Wacken Open Air: Metal-Festival hat ein Personalproblem

Fakt ist: Nach zwei Jahren Corona-bedingter Festivalpause hat auch Wacken als eines der größten Metal-Festivals weltweit ein Personalproblem – wie in der gesamten Live-Szene sind auch hier während der Pandemie Mitarbeiter abgesprungen und konnten nicht spontan ersetzt werden, das macht die Eingangsschleusen hakelig.

Über die Qualität des Line-ups hingegen kann man immer streiten, gerade in einem Umfeld, das so extrem ausdifferenziert ist, wie die Metal-Welt. Macht also eine Chartsband wie Limp Bizkit das echte Wacken-Feeling kaputt? Oder ist es vielmehr schade, dass Sänger Fred Durst gesundheitliche Probleme hat und die Band deswegen ihren Auftritt canceln muss? Eine Antwort darauf gibt es nicht.

Wacken Open Air: Skyline eröffnet „Harder“-Bühne

Vor allem ist es aber auch: total egal. Sobald man Wacken betreten hat, sind alle Nickeligkeiten wie weggeblasen, sofort ist man überwältigt vom Gegensatz zwischen hochaggressiver Musik und großer Freundlichkeit der Besucher, von der Weitläufigkeit des Geländes, von der Gigantomanie der Bühnen, die immer wieder in überraschenden Detailreichtum mündet. Also: Wacken. Muss ja. Erste Band: Skyline, Festivalurgesteine, die zwar am ungeliebten Donnerstagnachmittag spielen, allerdings traditionell als Eröffnung der riesigen „Harder“-Bühne vor großem Publikum. „There’s only one way to rock!“ jubelt Sänger Dan Hougesen. Und schießt damit haarscharf am Grundgedanken von Wacken vorbei.

Denn es gibt nicht nur eine Art zu rocken, es gibt unglaublich viele. Und das Festival ist zurecht stolz darauf, all diese Arten abzubilden, Thrash Metal, Extreme Metal, Popmetal, True Metal, Viking Metal, und und und. Und ebenso findet man jeden Metalhörer, den man finden möchte: Wer nach biederen Familienvätern sucht, die den Festivalausflug als Pauschalurlaub mit lauten Gitarren zelebrieren, der entdeckt sie unter den 75.000 Besuchern ebenso wie die Musiknerds, die analysieren, dass das Schlagzeugspiel bei Mercyful Fates „Come To The Sabbath“ minimal anders aufgebaut ist als auf dem Tonträger. Oder die staubbedeckten Druffis, die das gesamte Festival über im Bierrausch durchdämmern. Und dann findet man natürlich auch die, für die das Ganze ein großer Witz ist. Die sind bei Mambo Kurt.

Auf der „Wasteland“-Stage wird es düster

Mambo Kurt, unter dem bürgerlichen Namen Rainer Limpinsel Arzt aus dem Ruhrgebiet, ist so etwas wie das Maskottchen des Festivals. Der 55-Jährige tritt zwar nur auf der winzigen „Welcome To The Jungle“-Stage auf, dafür allerdings täglich. Und obwohl seine Musik definitiv kein Metal ist, ist der Raum vor der Bühne voll – Limpinsel spielt Rockklassiker auf der Heimorgel in Bossanova-Versionen. Hier also grölen halbnackte Jungmänner „Ihr sagt Mambo – Ich sag’ Kurt“, und der Musiker gibt ihnen, was sie wollen. Die Orgel piept, Limpinsel singt Scooter: „ I Like It Loud“, und das Publikum: „Möp Döp Döp“. Sage niemand, dass Metaller keinen Humor hätten, auch wenn dieser Humor nur selten Jungesellenabschieds-Niveau übersteigt.

Ernster geht es nebenan auf der „Wasteland“-Stage zu. Da spielt die israelische Alternative-Metal-Band Walkways, und Sänger Ran Yerushalmi widmet einen Song „den Arschlöchern in eurem Leben, die es nicht verdient haben, dass man ihnen einen Song widmet“. Da denk’ mal drüber nach! Überhaupt, „Wasteland“: Hier sind durch die Bank düstere Auftritte zu erleben, unter anderem das irische Quartett Dead Label, das mit knochentrockenem Groove Metal inklusive Ausflügen zu Punk und Hardcore überzeugt und so zeigt, wie vielschichtig dieses Genre sein kann.

Metal als Musik der alten, weißen Männer?

Während auf der W.E.T.-Stage, die sich aus dem für Experimentelles reservierten „Wacken Evolution Tent“ entwickelt hat, das schwedische Quartett Mister Misery pathetischen Horrorrock performt. Vier aggressive Pierrots stehen auf der Bühne, und lassen zuckersüße Harmonien unvermittelt in knallharte Blastbeat-Attacken kippen. Aber dann wendet sich Sänger und Gitarrist Harley Vendetta ans Publikum, „Wacken! Are you feeling good?“, und das theatralische Spiel mit tonnenweise Schminke und dunklen Samples entlockt einem plötzlich ein Lächeln. Es ist nicht leicht, ein Horrorclown zu sein.

Aber Moment! Experimentelles, Alternative – was ist aus Metal im Sinne eines stockkonservativen Genres geworden? Das gibt es auch, auf den Hauptbühnen „Faster“, „Harder“ und „Louder“. Da spielen unter anderem die australischen Bluesrocker Rose Tattoo (gegründet 1976), die Gladbecker Powermetaller Grave Digger (gegründet 1980) und Udo Dirkschneider, der als Sänger der Solinger Altmeister Accept seit 1971 auf der Bühne steht. Metal als Musik der alten, weißen Männer, so könnte man denken, wenn man die Headliner des Donnerstags anschaut, aber: Auch das ist ein bisschen kurz gedacht. Dirkschneider etwa mag dem Genre keine neuen Impulse mehr geben, aber der heute 70-Jährige ist ein Genre-Unikum, und weil Metaller grundsätzlich treu sind, wird auch sein Auftritt gefeiert.

Halford mit Bühnenpräsenz, die bis in die letzten Reihen reicht

Außerdem lässt er Judas Priest umso mehr glänzen, die den Abend auf der „Faster“-Bühne beschließen. Auch die sind schon seit 1973 in der Besetzung um Sänger Rob Halford aktiv, waren dabei allerdings alles, nur nicht konservativ: Das Quintett überraschte mit Disco-Klängen („Turbo“, 1986), Thrash („Painkiller, 1990) und einer Rockoper über den Weltuntergangspropheten Nostradamus (2008), zwischendurch outete sich Halford 1998 als erster Metal-Musiker aus der ersten Reihe als schwul. Zugegeben, der Sänger ist mittlerweile 71, ein alter Mann – aber was für ein alter Mann! Mit einer Bühnenpräsenz, die bis in die letzten Reihen reicht.

Leider ist der Andrang bei Judas Priest so groß, dass der Berichterstatter nicht mehr bis nach vorne kommt. Was daran liegt, dass zuvor noch ein paar Takte der amerikanischen Comedyrocker Gwar auf der „Louder“-Bühne gehört werden wollten – ein verzichtbares Vergnügen. Die Musiker stolpern in Monsterverkleidungen über die Bühne, spielen 08/15-Thrash und liefern eine pseudopolitische Show ab, in der eine Joe-Biden-Figur enthauptet wird. Angeblich sei bei früheren Gwar-Performances auch Donald Trump angegangen worden, aber ist das wirklich, was die Band sagen will: dass Trump und Biden gleichermaßen verachtenswert seien? Oder ist das hier doch nur politische Satire für zutiefst Politikverdrossene?

Wenn man Gwar als albernen Mummenschanz abgespeichert hat, dann wird plötzlich auch das übrige Umfeld schal: die riesigen Entertainmentzonen zwischen Mittelaltermarkt und Volksfest, in denen man unter anderem bei Hau-den-Lukas-Spielen scheitern oder bei Käfigkämpfen geifern kann. Aber auch musikalisch ist nicht alles Gold: die billigen Provokationen des Schockrock, die pathetischen Schmerzensmänner-Posen auf der sich eigentlich alternativ gebenden „Wasteland“-Stage (und bevor jetzt das Geschlechter-Argument bekommt, beweisen die Schwedinnen Thundermother, dass auch Frauen langweilige Musik spielen können).

Zuviel Zirkus? Wacken hat sich weit von seinen Ursprüngen entfernt

Es ist verständlich, wenn Fans, die seit der Festivalgründung Anfang der Neunziger nach Wacken fahren, sich mittlerweile angewidert abwenden, weil ihnen das Ganze zuviel Zirkus ist, zuviel Entertainment, zuviel Kommerz. „Helene Fischer mit E-Gitarren“, lästern sie dann. Wacken, das sind nicht mehr die netten Metalfans vom Dorf, das ist ein internationales Unternehmen, das sich weit von seinen Ursprüngen entfernt hat. Und womöglich ist an diesen Entwicklungen nicht alles gut. Sicher ist es das nicht.

Doch vielleicht erklärt sich aus dieser Unzufriedenheit auch der Ärger, den man zu Festivalbeginn im Netz entdecken konnte. Natürlich ist es eine Umstellung, dass auf dem Festival nicht mehr bar bezahlt werden kann, und natürlich bringt diese Umstellung Reibungsverluste mit sich. Aber ohne diese Entwicklungen wäre das Wacken Open Air heute noch ein Kleinfestival für eine in Teilen esoterische Szene. So ist es ein riesiges Event, das unterschiedliche Interessen befriedigt.

„Wer vieles bringt, wird Manchem etwas bringen“, heißt es in Goethes „Faust“, „Wer vieles bringt, wird Manche verärgern“, könnte man auf Wacken übertragen. Aber wer wirft den ersten Stein, wenn sich dabei auch immer wieder Perlen entdecken lassen? Zum Beispiel: Am Sonnabend ist die indonesische Frauenband Voice Of Baceprot eingeplant. Drei junge Muslimas, die im Hijab knallharte Beats in die Menge prügeln – wenn das nicht speziell ist, was denn dann?

Alle Infos zum Wacken Open Air unter www.wacken.com