Hamburg. Hamburgs großes Lese-Fest läuft nun. Moritz Rinke war dabei der richtige Opener. Selbst Hapag-Lloyd stellte den Ärger hintenan.
Was kann Literatur eigentlich tun? Wenn draußen Kriege toben und Dörfer überschwemmt werden, wenn Wälder brennen? Bringt selbst das engagierte, das nicht selten politische, gesellschaftlich ausgerichtete Geschreibe eigentlich noch etwas?
Als Leiter eines Literaturfestivals sollte man da eine unzweideutige Haltung haben. Nun, die hat Nikolaus Hansen auch.
Aber es ist mittlerweile doch der Zweifel, der sich zumindest leise in das stets so feierlich angestimmte „hohe Lied der Literatur“ mischt. So nannte Nikolaus Hansen bei der Eröffnung der 15. Ausgabe des Harbour Front Literaturfestivals das notorische Tun aller literarisch Beteiligten, die manchmal eine Kraft herbeireden, wo doch eher der Verdacht einer Muskelschwäche besteht.
Das mit dem Singen passte ganz gut, war man doch wieder in der Elbphilharmonie zusammengekommen, dem Harbour-Front-Partner, der Schauplatz vieler Festivalveranstaltungen ist.
Harbour Front Festival: 2023 sind Westernhagen und Stuckrad-Barre am Start
Etwas müde angesichts von Zuständen relativer Machtlosigkeit klang Hansen aber nicht lange, der gemeinsam mit Petra Bamberger und Heinz Lehmann das Hamburger Literaturfest organisiert. Klar, man könnte es ja alles sonst auch sein lassen.
Bis 28. Oktober sind Stars wie Daniel Kehlmann, Ute Lemper, Marius Müller-Westernhagen und Benjamin Stuckrad-Barre sowie allemal namhafte Schriftstellerinnen und Schriftsteller wie Uwe Timm, Dörte Hansen, Robert Seethaler, Eckart von Hirschhausen, Eugen Ruge, Bonnie Garmus und Richard Ford zu Gast.
Geht es nach Hansen, ist den Leuten auf der Bühne und denen davor – für viele Veranstaltungen gibt es noch Karten – bei den Lesungen stets auch leicht zumute. „Literatur kann Heiterkeit in jedem schaffen, kann Motivation schüren, um etwas anzupacken“, sagte Hansen.
Katharina Fegebank sprach vom Literatur-Hotspot Hamburg
Etwas anpacken, damit endlich etwas passiert also, alle gemeinsam. Kriege werden beendet, der Planet gerettet, um anderes kann es nicht gehen. Das „schale Gefühl, was Wohltaten der Literatur angeht und ihre Unverzichtbarkeit“ (Hansen), wäre dann auch verschwunden, ein Nebeneffekt. Das hörte sich natürlich doch wieder wie das hohe Lied an.
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Aber solange es Menschen gibt, die die auf dem Festival im Mittelpunkt stehenden Bücher schreiben und lesen, sie handeln von den Problemen der Gegenwart, ist Hoffnung da. Die Zweite Bürgermeisterin Katharina Fegebank sprach übrigens vom literarischen „Place to be“, vom Literatur-Hotspot, den das Festival darstelle. Stimmt, so ist das im Spätsommer und Frühherbst in Hamburg: Es kommen auch viele internationale Stars in die Stadt.
Moritz Rinke: Tagebuch über die Corona-Zeit und den Ukraine-Krieg
Manchmal berge der Rückblick „ja auch die Kraft der Veränderung in der Zukunft“, sagte Fegebank hinsichtlich des unterhaltsamen Teils des Abends. Moritz Rinke („Der Mann, der durch das Jahrhundert fiel“) war zu Gast, eine gute Wahl.
Nicht nur für die bekennende Selfie-Jägerin Fegebank , deren Fußballvorlieben sich mit denen des aus Worpswede bei Bremen stammenden Dramatikers und Autors decken, das nur nebenbei. Um Fußball geht es in Rinkes Corona- und Ukrainekrieg-Tagebuch „Unser kompliziertes Leben“ auch manchmal.
Vor allem jedoch um die Zumutungen und Erfordernisse der Gegenwart, die im Falle von Corona tatsächlich schon Vergangenheit ist, bevorstehenden neuen Infektionswellen zum Trotz. Mit Schauspieler Ulrich Matthes las Rinke aus seinen Betrachtungen der vergangenen drei Jahre. Rinke sieht die Bizarrerien der unmittelbare Zeitgeschichte, das absurde Schauspiel beispielsweise der Dichter und Denker, die so gerne offene Briefe an die politisch Mächtigen schreiben.
Harbour Front: Zuletzt lagen Schatten über dem Festival
Zuletzt taten sie das in der Frage nach Waffenlieferungen für die Ukraine. Die einen votierten dafür, die anderen dagegen. „Ist es so einfach, sich für die eine oder andere Seite zu entscheiden?“, fragte Rinke.
Es hat schon unplausiblere und schlechter funktionierende Festivaleröffnungsabende gegeben. Ach, man kann sagen: Entgegen anfänglicher Skepsis, ob man jetzt via Rinke noch mit Corona kommen müsse, war das alles klug, unterhaltsam und tatsächlich doch sehr aktuell. Dank der, aber sicher, viel beschworenen Kraft der Literatur in jedem Fall kurzweilig. In den vergangenen Jahren warfen Aufgeregtheiten um polarisierende Roman-Debütanten und die NS-Vergangenheit von Kühne+Nagel einen Schatten auf die Festivals.
Am Donnerstagabend wollte aber nicht mal Michael Behrendt, der als Chef der Hapag-Lloyd-Stiftung für die Topsponsoren des Festivals sprach, schlechte Laune aufkommen lassen, trotz von der Stadt Hamburg verabreichter kalter Hafen-Duschen. „Unser Heimathafen ist und bleibt Hamburg“, sagte Behrendt. Und wollte das ausdrücklich nicht allein als Kommentar zur finanziellen Unterstützung von vielen kulturellen Veranstaltungen verstanden wissen, von denen viele direkt an der Elbe stattfinden.
Harbour Front Festival: Einen neuen Förderer gibt es in diesem Jahr
Was war noch? Ach ja, es gibt einen neuen Hauptförderer des Festivals. Co-Organisator Hansen ließ es sich nicht nehmen, den Auch-Schriftsteller Johann Scheerer zu nennen, dessen Rothenburgsorter Label und Plattenstudio Clouds Hill Recordings nun also mit im Boot ist.
Moritz Rinke hatte seine Vorlese-Kapitel gut ausgewählt. Wenn denn die im Saal um sich greifende Nachdenklichkeit bei den Ukraine-Teilen seines Texts ein Gradmesser war. Und das einsetzende Gelächter beim Thema Corona, es ist im Nachgang – Thema Genesenen-Status oder Abstandsregeln – doch alles auch sehr anekdotisch.
Tolstoi habe einst mit 13 Kindern im Homeoffice „Krieg und Frieden“ geschrieben, so Rinke. Und muss man sich wirklich beschweren, wenn unter den vielen, vielen Amazon-Pakete auch irrtümlich an ihn adressierte Sextoys sind? Ja, über Corona-Dildos kann man einfach mal lachen. Sie war jedenfalls da, die von Niko Hansen eingeforderte Heiterkeit.
Gestärkt mit dieser Heiterkeit und Literatur durften dann alle nach Hause gehen aus dem nicht schlecht besetzten Kleinen Saal der Elbphilharmonie (das war bei gleichem Anlass auch schon anders). Wer weiß, vielleicht ging manch einer sogar ans Werk und am Freitag zu Fridays for Future. Das wäre doch was.