Hamburg. Ein Psycho-Thriller, der auf einer Romanvorlage fußt: Damit kann man auch auf Netflix nicht so viel verkehrt machen. Oder?
Das albtraumhafte Verbrechen, in dem sich das Triebverhalten auf perverse Weise entfesselt, zeigte sich in den vergangenen Jahrzehnten aufsehenerregend ausgerechnet im Lande Sigmund Freuds.
Die Fälle Přiklopil (der Kampusch-Entführer) und Fritzl bewiesen: Kranke Männer sperren gerne Frauen und Kinder ein. Eine insgesamt sehr ordentliche Netflixserie nimmt sich des Themas nun an – auf entsprechend schauderhafte Weise.
Netflix: Papa ist Gott in Serie „Liebs Kind“ – Die „Familie“, ein Peiniger und das Verlies
Der Sechsteiler „Liebes Kind“ basiert dabei auf dem gleichnamigen Thriller der Bestsellerautorin Romy Hausmann und handelt von den Abgründen der Seele, vom Freiheitsentzug, der je nach Sichtweise auch das Idealbild der perfekten Familie ist.
So stellt es sich jedenfalls für die zwölfjährige Hannah (beeindruckend: Naila Schuberth) dar, die auf dramatische Weise ihrer bis dahin lebenslangen Gefangenschaft entkommen ist. Gemeinsam mit Lena (Kim Riedle), die für Hannah selbst „Mama“ ist und auch von den Ermittlern als solche betrachtet wird, ist sie in einer blutigen Nacht ihrem Peiniger entwischt.
Netflixserie „Liebes Kind“: Ein Thriller, der sich Zeit nimmt
Nur dass sie „Papa“ nicht als ihren Peiniger betrachtet. Bei der Krankenschwester und dem Polizeipsychologen, die sich ihr sensibel nähern, offenbaren sich früh verstörende Verhaltensweisen. Und dabei das Verbrechen. Die Zuschauer wissen von Anfang an mehr als die Ermittler.
Die erste Szene dieses Thrillers (Drehbuch und Regie: Isabel Kleefeld, Julian Pörksen), der sich erfreulicherweise Zeit nimmt, zeigt das unterwürfige und ängstliche Verhalten Lenas sowie der zwei Kinder Hannah und Jonathan (Sammy Schrein). Und das strenge Regiment eines aufgrund der Kameraführung gesichtslos bleibenden Mannes, der eine hochgesicherte Wohnung bewacht.
Wer ist dieser Mann? Wo ist die verliesartige, vom Tageslicht abgeschnittene Bleibe, in der Hannah und Lena leben mussten? LKA-Mann Gerd Bühling (Hans Löw) und die Aachener Polizistin Aida Kurt (Haley Louise Jones) müssen im Grenzgebiet zu den Niederlanden den zunächst noch verschollenen kleinen Bruder Hannahs finden. Auf einem militärischen Sperrgebiet kommt es dabei zu einem dramatischen Zwischenfall.
Neue Serie auf Netflix: Der Ermittler wird von seiner Vergangenheit eingeholt
Wie der geschickt inszenierte, die Zeitebenen miteinander verschränkende Mehrteiler überhaupt ein paar Suspense-Kurven nimmt, dabei aber vor allem grundlegend und früh eine klaustrophobische, düstere Atmosphäre etabliert.
Auch der Ermittler Bühling wird dabei von den Schatten der Vergangenheit eingeholt und auf den Kidnapping-Fall ja auch erst aufmerksam, weil er in der nachts verletzt aufgegriffenen Lena die junge, seit 13 Jahren verschwundene Lena Beck vermutet, die zu seinem Bekanntenkreis gehörte.
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„Liebes Kind“ setzt auf die Charaktere, von denen sich nur einer als das Opfer sieht, das er ist. Vor allem sind da nämlich die psychisch von der Gefangenschaft deformierten Kinder, die das Geschehen nicht einordnen können.
Hannah hat von der Nacht ihres Entkommens („Mama wollte aus Versehen Papa umbringen“) andere Erinnerungen als Lena. Aber zugerichtet von den diktatorischen Regeln des „Vaters“ sind sie beide: Alles war festgelegt und von Regeln bestimmt, sogar die Uhrzeit des Toilettengangs – auch in der Freiheit können sie sich von jenen Regeln nicht lösen.
Der gottgleiche Mann ist das Oberhaupt dieser bizarr-kranken Familienkonstellation, mit großzügig selbst gewährten, weitreichenden Befugnissen, zu denen die Vollüberwachung per Kamera zählt.
„Liebes Kind“: Ein gut gespielter Thriller auf Netflix
Aber für den Dämon hinter dem Verbrechen interessiert sich „Liebes Kind“ nur insofern, als er nun mal aus dem Verkehr gezogen werden muss. Wobei es früh eine Leiche gibt, die die Jagd beenden könnte. Bühling und seine Kollegin fragen sich jedoch, ob sie es mit mehr als einem Täter zu tun haben.
Der Plot hält ein paar Twists bereit und lässt den Betrachter im Unklaren darüber, was mit Lena Beck einst geschehen ist und wer sich über die Jahre noch in Gefangenschaft welcher Täter auch immer befand.
Aber ohne die Psychologie der Figuren würde die Serie nicht funktionieren. Es ist ein Tableau der angestrengten persönlichen Status-Meldungen, das hier aufgefahren wird: Ermittler Bühling ist depressiv und auf unheilvolle Weise mit den Eltern Lina Becks verbunden. Matthias (Justus von Dohnányi) und Karin Beck (Julika Jenkins) wiederum sind traumatisiert vom Verlust der einzigen Tochter. Insbesondere er reagiert nahezu manisch auf das Auftauchen der zwölfjährigen Hannah und ihrer Mutter.
„Liebes Kind“ ist ein spannender, gut gespielter Thriller, bei dem man bis zum Finale an der Nordseeküste bei Weitem nicht jede Pointe kommen sieht. Ob man sich in ein paar Jahren noch an ihn erinnern wird? Nicht zwangsläufig. Aber er ist doch besser als manch anderes, was bei den Streamingdiensten derzeit so durchrauscht.
„Liebes Kind“ ist ab 7. September auf Netflix abrufbar.