Hamburg. Zynisch, naiv oder brillant? Carsten Brosda wird mit seinem neuen Buch zum Botschafter der Zuversicht – und der besseren Playlist.
Klimakatastrophe, Ukraine-Krieg, Inflation, Corona-Herbst – wer einen Grund sucht, um frustriert durchs Leben zu schleichen, hat derzeit freie Auswahl. Und dann springt einem ausgerechnet dieser Titel entgegen: „Mehr Zuversicht wagen“, fordert Hamburgs Kultursenator Carsten Brosda (SPD) in seinem neuen Buch (Hoffmann und Campe, 352 Seiten, 25 Euro), das am Montag erscheint. Ist das zynisch? Naiv? Weder noch, findet Brosda. Er beschwört die Kraft von Geschichten, spricht über das Prinzip Scholzomat, das Pathos der Nüchternheit und den Glauben an Veränderbarkeit - und darüber, warum manche Politiker singen sollten und andere besser nicht.
Hamburger Abendblatt: „Mehr Zuversicht wagen“ heißt Ihr neues Buch – und wir erwarten jetzt natürlich nicht weniger, als später total optimistisch und gut gelaunt aus diesem Gespräch zu gehen. Schaffen Sie das?
Carsten Brosda: Ich weiß gar nicht, ob ich das kann. Ich will als Politiker auch gar nicht wohlfeil an alle appellieren, sondern ich versuche Wege aufzuzeigen, auf denen ich selbst mir Zuversicht hole. Wenn Ihnen das dann auch gute Laune macht, bin ich glücklich.
Schreiben Sie nicht in Wahrheit über Zuversicht, weil wir tatsächlich in einer besonders bedrückenden Zeit leben?
Carsten Brosda: Angefangen hat der ganze Spaß mit dem neuen Buch damit, dass der Verleger von Hoffmann und Campe sich von mir eine Kulturgeschichte der Sozialdemokratie gewünscht hat. Und ich habe gesagt, das mache ich garantiert nicht, solange ich noch einen richtigen Brotjob habe, weil das ein wirklich grundsätzliches Forschungsprojekt wäre. Aber über Kultur, Geschichten und Sozialdemokratie zu schreiben, das konnte ich mir vorstellen. Geschichten, in denen Menschen sich zusammenschließen, um etwas besser zu machen. Was da für eine Kraft drinsteckt! Die Zuversicht als roter Faden hat sich daraus erst beim Schreiben ergeben, als klar wurde, in was für eine Situation wir als Gesellschaft gerade hineintaumeln.
Kultursenator Carsten Brosda: Glaube daran, die Verhältnisse zu verbessern
Viele Menschen lähmt stattdessen ein Gefühl der Unveränderbarkeit, der Ohnmacht, eine enorme Krise folgt auf die andere. Wirkt da die Aufforderung, die auf dem Titel steht, nicht entweder zynisch oder naiv?
Carsten Brosda: Weder noch. Ich zitiere an einer Stelle zwei Journalisten, die sich mit einem wegschmelzenden Gletscher in der Antarktis beschäftigt haben. Sie haben sich, so formulieren sie es selbst, dabei in so eine Art „Untergangsgeilheit“ hineinrecherchiert. Am Ende aber schreiben sie diesen Satz: „Wenn wir aufhören zu hoffen, kommt das, was wir befürchten, bestimmt.“ Und da ist was dran. An anderer Stelle zitiere ich Robert Misik, einen ganz klugen Zeitbeobachter aus Österreich, der mit Blick auf die Kunst meint, dass „das grundlegende Gefühl der Unveränderbarkeit der Welt letztendlich zum wichtigsten Stabilisator veränderungswürdiger Zustände geworden ist “. Wenn wir also aufhören zu glauben, dass wir die Verhältnisse verbessern können, dann werden wir sie auch nicht verbessern.
Der vielleicht am wenigsten zuversichtliche Mensch der Gegenwart ist der Klimaaktivist. Würde nicht jemand von der Letzten Generation den Kopf schütteln und Ihnen entgegnen: Mensch, „Zuversicht wagen“ – das können wir uns gar nicht mehr erlauben!
Carsten Brosda: Da bin ich nicht sicher – weil auch der Aktivist ja davon ausgeht, dass man eine Gesellschaft noch dazu bringen kann, das Richtige zu tun. Ich finde das Mittel der „Klimakleber“ falsch und auch ihren Moralismus. Aber dahinter steht immerhin die Annahme, dass man noch etwas tun kann. Wenn die diesen Glauben, diese Zuversicht nicht mehr hätten, müssten sie sich auch den Schmerz nicht antun, sich irgendwo mit Sekundenkleber auf Asphalt zu kleben. Die Aussage ist: Ihr könnt besser sein, als ihr momentan seid.
Man kann das Buch als Abrechnung mit der Politik lesen, der es nicht gelingt, die Bürgerinnen und Bürger mitzunehmen, weil sie die richtigen Erzählungen oder Erzählweisen nicht findet. Man müsste besser von der Zukunft erzählen, sagen Sie. An wen richtet sich denn der Appell? Für wen ist dieses Buch geschrieben?
Carsten Brosda: Ich habe es nicht als Abrechnung geschrieben. Ich habe eher die Ermunterung versucht: Guckt mal, es geht doch auch anders! In der Kunst und der Populärkultur werden uns Geschichten davon erzählt, dass die Welt veränderbar ist. Wenn wir uns dann aber mit Politik befassen, also der realen Möglichkeit, gesellschaftlich etwas zu verändern, werden wir oft nölig und glauben, es geht nicht voran. Insofern ist es schon eine Ermutigung an uns alle, mal zu gucken, ob wir nicht diesen Glauben an die Veränderbarkeit der Dinge in die gemeinsame Gestaltung von Gesellschaft mitnehmen können. Und es ist ein Appell an die Politik, sich mit diesen Kraftquellen auseinanderzusetzen.
Carsten Brosda: Braucht die SPD einfach eine bessere Playlist?
Braucht die SPD einfach eine bessere Playlist?
Carsten Brosda: Die Playlist wäre ein Anfang. Aber den Glauben an Veränderbarkeit kann man an vielen Orten stärken. Wenn ich zum Beispiel im Theater sitze und Menschen dabei zusehe, wie sie sich auf einer Bühne eine andere Welt vorstellen, dann erfahre ich doch auch, dass etwas anderes denkbar ist als das, was momentan ist. Das vermittelt mir Zuversicht.
Jede Politik, die Veränderung will, so schreiben Sie es, braucht Erzählungen davon, wie die Welt sein könnte. Aber auch die AfD erzählt davon, was sein könnte. Und auch Panikmache ist eine Möglichkeitserzählung.
Carsten Brosda: Es geht nicht allein um die Mechanik des Geschichtenerzählens. Ich erinnere einen Auftritt des britischen Dramatikers Simon Stephens am Thalia Theater, wo er genau davon berichtet: wie andere sich die Kraft des Erzählens zu eigen gemacht haben, um etwas Schlechtes zu wollen. „We left the stories to the bastards“ – „Wir haben den Bastarden das Geschichtenerzählen überlassen“, so hat er es beschrieben. In seinem Fall meinte er den Brexit. Die progressive Politik glaubt manchmal, dass sie die Fakten auf ihrer Seite hat und sich deswegen nicht mehr um das Geschichtenerzählen kümmern muss. Dann werden die Storys aber von denen erzählt, die die Fakten nicht auf ihrer Seite haben, aber eine vermeintlich spannende Geschichte erzählen können. Wenn ich mir den Trumpismus in den USA angucke oder die AfD bei uns, dann muss man feststellen: Die beschäftigen sich durchaus mit Kultur. Das ist kein linkes Privileg mehr. Wenn ich ihnen das Feld kampflos überlasse, dann habe ich verloren.
Neues Buch von Carsten Brosda: Es geht auch um Bruce Springsteen
Sind die Rechten und die Populisten im Moment die besseren Geschichtenerzähler?
Carsten Brosda: Sie sind ruchloser. Wenn ich eine Geschichte erzähle, unabhängig davon, ob sie wahr ist oder nicht, wird sie nicht besser.
Wobei Sie im Buch schreiben, es sei zweitrangig, ob anschlussfähige Erzählungen und Emotionen wahr sind oder nur wahrhaftig. Ein gefährlicher Gedanke?
Carsten Brosda: Wenn es um die Politik geht, ja. Der Gedanke bezieht sich aber auf die Kunst, nicht auf die Politik. Das ist der Unterschied. Für die Kunst ist es zweitrangig. Bruce Springsteen hat zum Beispiel bereitwillig erzählt, dass er noch nie eine Fabrik von innen gesehen und noch nie in seinem Leben fünf Tage die Woche gearbeitet habe. Aber natürlich kann er in seinen Songs das Gefühl vermitteln, wie das ist. Das kann die Kunst. Deswegen hat die Kunst eine Freiheit, die der Politik nicht offensteht – für deren Ergebnisse sie sich aber interessieren sollte, weil sie wirklich inspirieren können.
Sprechen wir noch mal über Einfachheit. Die Narrative der Rechten sind bisweilen leichter greifbar. Das Leben ist aber gelegentlich widersprüchlich, komplex oder sogar missverständlich.
Carsten Brosda: Also, mich langweilen einfache Geschichten, und ich glaube, das geht den allermeisten auch so. Das Leben ist ja auch nicht einfach. Das Spannende, finde ich, sind Geschichten, die mit der Widersprüchlichkeit umgehen und dabei helfen, Widersprüchlichkeit zu spüren, zu erfahren und so vielleicht auch ein bisschen besser begreifen zu können. Darin steckt eine Chance von Kunst. Wenn ich ernst nehme, was mir da an Möglichkeiten begegnet, dann werde ich fähiger, mit der Vielfalt in einer Demokratie umzugehen. Dann finde ich es auch aushaltbar, dass die Dinge nicht so einfach sind, dass da Konflikte und unterschiedliche Deutungen sind. Daraus ziehe ich Kraft für die Veränderbarkeit. Die Antwort der Rechten ist ja: Das ist alles so unübersichtlich – wir machen das für dich wieder einfach.
Das ist aber offenbar eine ziemlich anschlussfähige Formel.
Carsten Brosda: Die Schwierigkeit unserer Zeit ist, dass wir manchmal in Komplexität ersaufen. Es ist meine Erwartung an Politik, dass sie stärker in der Lage ist zu erklären, dass das, was wir in konkreten jeweiligen Schritten machen, für eine bestimmte Vorstellung von Gesellschaft wichtig ist. Dass klar wird, wofür wir das machen. So kann man eine Mehrheit finden, die für diese Vorstellung kämpft.
Wie wollen Sie jemanden dazu bringen, der gar keine Lust dazu hat, es aber womöglich besonders nötig hätte?
Carsten Brosda: Ich glaube, dass viel mehr meiner Kolleginnen und Kollegen das könnten. Aber man begibt sich in unserem Land als Politiker in der Öffentlichkeit in die rhetorische Tradition, möglichst rational und zurückhaltend zu sprechen.
Das Konzept Scholzomat ...
Carsten Brosda: Nennen Sie mir mal einen Bundeskanzler, der wirklich mitreißende Reden halten konnte. Willy Brandt ist die rhetorische Ausnahmefigur. Deutschland hat hier ein Pathos der Nüchternheit kultiviert, wie ein Soziologe mal geschrieben hat. Und das trägt auch ein ganzes Stück. Vor allem nach den Erfahrungen, die wir in Deutschland mit verbrecherischer Überwältigungsrhetorik gemacht haben. Aber bei aller Wertschätzung für das seriöse Regieren – zumindest das kann man ja auch zum Gegenstand einer guten Geschichte machen.
Barack Obama als leuchtendes Vorbild, was politische Auftritte angeht
Amerika ist im Hinblick darauf insgesamt anders.
Carsten Brosda: Barack Obama konnte das, das war unfassbar. Wie er sich bei einer Trauerfeier hinstellte und in der Kirche sang. Man stelle sich einen deutschen Politiker vor, der aus einer Rede in ein Lied wechselt, um dann weiterzureden. In dem Moment bekam die Veranstaltung eine emotionale Tiefe. Das ist in der deutschen Geschichte wahrscheinlich nur vergleichbar mit Brandts Warschauer Kniefall. Sich aus dem Darstellen des reinen Sachverhalts einmal herauszubewegen, darum geht es. Bei einer USA-Reise habe ich mal mit dem damaligen Arbeitsminister Olaf Scholz an einer Rede über die deutsche Kurzarbeit während der Finanzkrise gearbeitet, einer Rede entlang Merle Haggards „Workin‘ Man Blues“ und Bob Dylans „Workingman’s Blues #2“. Die hat er dann auch so gehalten. Das geht also schon.
War aber in Amerika. Hier in Deutschland hat Andrea Nahles mal „Pippi Langstrumpf“ gesungen.
Carsten Brosda: Ja, das fanden Ihre Kolleginnen und Kollegen nicht so toll.
Ihr Zuversichtsbuch ist eigentlich eine fundierte, elaborierte und verwinkelte Version von Obamas „Yes, We Can“. Nach Obama kam Trump. Keine gute Perspektive.
Carsten Brosda: Die USA sind gespalten in zwei Lager, die auch kaum mehr in der Lage sind, sich miteinander zu verständigen. Das führt zu einem gefährlichen Entweder-oder. Springsteen zum Beispiel wird sehr übel genommen, dass er sich seit einigen Jahren sehr deutlich und klar zu den Demokraten bekennt. Mit der Karriere der Dixie Chicks war es vorbei, als sie sich vehement Bush-kritisch äußerten. So etwas gibt es in Deutschland zum Glück noch nicht, weil die politischen Lager hier fragmentierter sind. Aber auch hier halten sich viele Künstlerinnen und Künstler aus durchaus auch nachvollziehbaren Gründen mit politischen Aussagen zurück und äußern sich nur dann, wenn es um wirklich ganz fundamentale Dinge geht.
Carsten Brosda: Die enorme Kraft der Zuversicht
In Ansätzen kann man eine Pendelbewegung auch bei uns beobachten: Auf Merkels „Wir schaffen das“ kam das verbitterte „Danke, Merkel“, auf Zuversicht folgte viel Hass.
Carsten Brosda: Das trifft den Kern meiner Überlegungen: Was ist das für eine Aussage über unser Land, dass Menschen zu uns kommen, weil sie hier leben wollen! Weil sie nämlich glauben, dass man das hier gut kann. Es geht dabei um Zuversicht. Es geht darum, dass unser Land als eines wahrgenommen wird, das Chancen verspricht. Darin steckt eine enorme Kraft. Aber der muss man dann auch eine politische Fassung geben.
Sie werden in Ihrem Buch persönlich, berichten vom Tod Ihrer Mutter und Ihrer Schwester. Ist eine derartige Nahbarkeit, ist das Intime auch ein Modell, auf das Politiker zurückkommen könnten, um wieder „bei den Leuten“ zu sein?
Carsten Brosda: Ich will da nicht grundsätzlich Ratschläge geben. Es ging mir nicht allein um Geschichten, die ich mir angelesen habe oder die ich vom Plattenteller gereicht bekommen habe, sondern auch um Geschichten, die ich erlebt habe, die mich geprägt haben. Geschichten, die zu einem Werte-Kosmos geworden sind. Meine Jugend, der Tod meiner Mutter und der meiner Schwester. Ich glaube, jeder Mensch hat Geschichten, die prägend sind, genauso prägend wie die Musik, die man gehört hat, die Filme, die man gesehen hat, und die Bücher, die man gelesen hat. Sich damit auch auseinanderzusetzen, ist für mein politisches Herangehen zwingend. Es mag Politiker geben, die das nicht tun. Das muss nicht besser oder schlechter sein; ich könnte es nicht anders.
Wo will der Politiker Carsten Brosda hin?
Die Bundestagswahlberichterstattung 1998 sahen Sie im Krankenhausbett, auch diese Episode schildern Sie. Hat Sie die damals festgestellte Diabetes grundsätzlich verändert, neben den alltäglichen Notwendigkeiten?
Carsten Brosda: Die Diagnose Diabetes war eine Erinnerung daran, dass man auch als jemand, der sich eher über das Denken und Reden definiert, einen Körper hat, der funktionieren muss. Das bringt diese Krankheit einfach mit sich: eine ganzheitlichere Betrachtung der eigenen Existenz, wenn Sie es etwas hochgestochen formuliert haben wollen.
„The audacity of Hope – die Kühnheit der Hoffnung“ hat Obama ins Weiße Haus getragen. Jetzt kommen Sie und die Zuversicht. Wo wollen Sie hin?
Carsten Brosda: (lacht) Mit meinem Buch auf möglichst viele Nachttische.