Frankfurt/Hamburg. Eine spannende, eine kühne Wahl: “Blutbuch“ räumt auf mit dem “Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern“.

Der Deutsche Buchpreis 2022 ist vergeben – er geht an Kim de l’Horizon. Eine kühne, eine spannende Wahl, die auf konsequente Weise die ewige Frage nach der Geschlechtergerechtigkeit bei der renommierten Auszeichnung konsequent aushebelt. Diesmal hat weder eine Frau noch ein Mann den – aus Sicht der siebenköpfigen Jury – Roman des Jahres geschrieben. Sondern jemand, der sich non-binär identifiziert, sich also weder als Frau noch als Mann sieht.

Gegenwärtiger könnte der mit insgesamt 37.500 Euro dotierte Preis also nicht sein, auch bei der Verleihung: Kim de l’Horizon sang nicht nur einen Song der britischen Band London Grammar, sondern rasierte sich auch die Haare ab – um ein Zeichen für die unterdrückten Frauen im Iran zu setzen.

Deutscher Buchpreis: Kim l'Horizon für "Blutbuch" ausgezeichnet

Der Roman trägt den Titel „Blutbuch“, und er ist tatsächlich ein in vielerlei Hinsicht nie da gewesenes Experiment: Wie man die eigene verschwimmende, nicht fest andocken wollende Identität in einen Text verwandelt, der dementsprechend nicht als kunstvoll gefügter, fest gestanzter Roman durchgehen will. Kompliziert zu lesen ist der Roman dennoch nicht.

Aus der Perspektive eines sich wie sein Verfasser geschlechtermäßig nicht festlegenden Protagonisten wird die Lebens- und Familiengeschichte eines jungen Menschen aus der Schweiz erzählt, der den Prägungen und Gegenprägungen aus Kindheit und Jugend nachforscht, in einen nachträglichen Dialog mit seiner dementen Großmutter und seiner Mutter tritt, die ihre Rolle als vom Patriarchat ausgebremste Frau nie annehmen wollte.

"Blutbuch" räumt auf mit dem "Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern"

Im ersten Teil ist dieser Roman hauptsächlich eine Familienaufstellung, ein Zurückblicken in die Ahnengalerie. Im zweiten ist das „Blutbuch“, bei dem die im Garten vom Vorfahr gepflanzte Buche ein Gegenstand hartnäckiger Betrachtung ist, ein sprachlich anders angegangener Bericht eines persönlichen, non-binären Werdens. Der Roman erzählt auf jeder Seite die gleiche Geschichte der absoluten Dekonstruktion, in der nicht nur Geschlechter, sondern auch Familien, Klassen und Milieus hinterfragt werden.

Die Orientierungsschwierigkeiten des Kindes („Das Kind fragt sich. Wann muss man sich entscheiden. Ob man Mann oder Frau wird?“) weicht viel später der sexuellen Bestimmtheit im Unbestimmten: „Und ich war ja auch tatsächlich nie schwul, weil Schwulsein geht ja nur, wenn mensch daran glaubt, dass es zwei Geschlechter gibt und dass mensch auf dasselbe Geschlecht steht; und dieses Schauermärchen von bloss zwei Geschlechtern , von zwei unschmelzbaren Gletschern, die genau das Gegenteil voneinander seien, das erzähle ich nicht weiter.“

Ärgern werden sich all diejenigen, für die das Non-Binäre eine Überforderung ist

Hier ist alles fluid, die Geschlechter sind im Fluss. Der Mensch als Mann ist eine Erfindung, der Mensch als Frau auch. Sprachlich wird das Patriarchat unbedingt ausgeschlossen. Man wartet in diesem selbstbewusst funkelnden Text nicht auf „jemanden“, sondern auf „jemenschen“. „Blutbuch“ ist eine Erzählung vom Körper, der immer wieder neu erfunden wird.

Kim de l’Horizon gibt sein/ihr Geburtsjahr mit 2666 an, „in der Spielzeit 21/22 war Kim Hausautorj auf den Bühnen Bern“. Ärgern werden sich all diejenigen, für die das Non-Binäre eine Überforderung ist; was sie in jedem Fall verpassen, ist ein Roman, der in Form und Dringlichkeit nicht alltäglich ist.

Deutscher Buchpreis: Kim de l'Horizon zeigt "enorme kreative Energie"

„Mit einer enormen kreativen Energie sucht die non-binäre Erzählfigur in Kim de l’Horizons Roman ‚Blutbuch‘ nach einer eigenen Sprache. Welche Narrative gibt es für einen Körper, der sich den herkömmlichen Vorstellungen von Geschlecht entzieht?“, heißt es in der Jurybegründung für den Buchpreis. Gepriesen wird die „literarische Innovationskraft, von der sich die Jury provozieren und begeistern ließ“.

Insgesamt hatte die Jury 233 Titel gesichtet. Bei der Preisverleihung im Frankfurter Römer – sie eröffnet traditionell die Frankfurter Buchmesse – waren neben Kim de l’Horizon auch die übrigen fünf auf der Shortlist vertretenen Autorinnen und Autoren zugegen: Fatma Aydemir, die mit „Dschinns“ nominiert war, Daniela Dröscher („Lügen über meine Mutter“), Jan Faktor („Trottel“), Eckhart Nickel („Spitzweg“) und die Hamburgerin Kristine Bilkau („Nebenan“)

25.000 Euro gehen an Kim de l’Horizon, Die fünf übrigen Finalisten erhalten jeweils 2500 Euro. Im vergangenen Jahr erhielt Antje Rávik Strubel den deutschen Buchpreis für ihren Roman „Blaue Frau“, 2019 gab es einen Hamburger Sieger, als Saša Stanišić für sein Memoir „Herkunft“ ausgezeichnet wurde.