Hamburg. Das Kyiv Symphony Orchestra geht auf große Tournee, am 1. Mai ist Finale. Klangkörper ist Teil einer ukrainischen „Kulturfront“.

Normalerweise wären garantiert alle durchgedreht vor Vorfreude und Stolz. Sieben Tage Deutschland-Tournee, in wenigen Wochen mithilfe einer deutschen Künstleragentur von jetzt auf gleich organisiert? Und das nicht irgendwo, sondern an jedem Abend in einem anderen Premium-Konzertsaal, darunter die Berliner Philharmonie, das Leipziger Gewandhaus, der Kulturpalast in Dresden und, als Finale, am 1. Mai die Elbphilharmonie?

Für ein Orchester wie das Kyiv Symphony Orchestra (KSO) und seinen italienischen Chefdirigenten Luigi Gaggero ein Riesending, um in der europäischen Musikwelt schlagartig bekannt zu werden. Aber: „Am 24. Februar, um fünf Uhr morgens, da stoppte alles“, sagt Julia Nieporozhnieva. „Jeder stoppte.“ Denn Wladimir Putin ließ seine Armee die Ukraine überfallen.

Elbphilharmonie: Tournee ist nun viel mehr als eine Tournee

Die Geigerin ist so neu im Orchester, dass sie noch kein einziges KSO-Konzert mitgemacht hat. Sie stammt aus der Südukraine, hat in Donezk studiert und auf Kreuzfahrtschiffen gespielt, danach hat sie vier Jahre lang Kindern in Singapur Musikunterricht gegeben. Kurz vor dem Beginn der Covid-Pandemie kehrte sie in die Ukraine zurück. Das Vorspiel, das ihr diese Stelle einbrachte, fand eine Woche vor Kriegsbeginn statt. Ihr Mann ist noch in Kiew, ihre Eltern und Großeltern sind noch in der Region Cherson. „Sie können nicht weg. Alles ist besetzt“, erzählt sie. „Die Leute dort teilen, was sie haben, sie sind vereint und helfen einander. Nur so können sie jetzt überleben.“

Gerade ist Nieporozhnieva nicht mehr in ihrer Heimat, sondern Gast auf Zeit in Warschau, zugeschaltet in einem Zoom-Fenster. Unterstützt durch das Kulturministerium, die dortige Philharmonie und andere, probt ihr Orchester dort, zwei Wochen lang. Für diese Tournee, die nun so viel mehr sein soll als eine Tournee. Das erste Konzert fand am 21. April in der Warschauer Nationalphilharmonie statt, am 23. April folgt Lodz, danach geht es direkt weiter nach Deutschland; Frankreich und weitere Länder sind in Arbeit.

Nieporozhnieva will Musik der Ukraine zeigen

Nieporozhnieva wollte immer Musikerin sein und ist nun auch Kultur-Botschafterin. „Das ist jetzt sehr wichtig“, sagt sie stolz. „Ich gebe mein Bestes.“ Sie wolle der Welt zeigen, „dass wir ein wunderschönes Land sind und wunderschöne Musik haben.“ Am Vortag hatte sie zum ersten Mal seit Längerem wieder ein Flugzeug gehört und bekam schon davon einen Riesenschreck. Vorhin, bei der Probe, da musste sie plötzlich weinen, erzählt sie ebenfalls und lacht danach kurz und verlegen, als ob sie sich dafür entschuldigen müsste. „Ich habe die Musik gehört und dann kamen die Tränen. Normalerweise passiert mir so etwas nicht.“

Geigerin Iulia Nieporozhnieva: „Das  ist jetzt sehr wichtig. Ich gebe mein  Bestes .“
Geigerin Iulia Nieporozhnieva: „Das ist jetzt sehr wichtig. Ich gebe mein Bestes .“ © Kiyiv Symphony Orchestra

Rund 80 Menschen groß ist das Orchester. Einige der jetzt mitspielenden Männer sind Gäste, weil einige der Orchester-Männer in der Ukraine sind. Und weil alle Männer unter 60 eigentlich nicht ausreisen dürfen. Das gesamte KSO und viele Angehörige – alles in allem etwa 120 Menschen – durfte aber, mit einer zeitlich begrenzten Sondererlaubnis vom Verteidigungsministerium und vom Ministerium für Kultur und Informationspolitik, „weil wir in einer kulturellen Mission unterwegs sind“, erklärt Anna Stavychenko, einen Tag nach dem Gespräch mit der KSO-Geigerin.

"Wir sind die Stimme für die Ukraine"

Anfang Mai wollen alle wieder zurück in die Heimat, die gerade von Putins Armee verwüstet wird. „Natürlich!“ wollen sie zurück. „Wichtig ist, dass wir wieder Musikerinnen und Musiker sind. Ein Orchester. Und jetzt sind wir diese Stimme für die Ukraine, die gehört werden soll.“

„Die Stimmung im Orchester? Es gibt viele gebrochene Herzen“, berichtet Stavychenko. Die Musikwissenschaftlerin ist seit November 2021 Executive Director des KSO. Gerade ist sie aber in Paris. In ihrem Zoom-Fenster sieht man hinter ihrem Rücken die charakteristische Metall-Außenfassade der dortigen Philharmonie. „Sechs Stunden täglich wird in Warschau geprobt, es ist also alles andere als ein Urlaub. Vor allem aber ist diese Tournee für uns alle eine riesige Freude – wir sind wieder zusammen, spielen wieder miteinander.“ Und natürlich sagt sie immer „wir“.

"Musik hilft, das alles zu überleben"

„Für einige dürfte es sogar eine Art Therapie sein, um eine Zeit lang dem zu entkommen, was zu Hause passiert. Die vielen schrecklichen Nachrichten, die Sorgen, die wir durchmachen. Ich bin mir ziemlich sicher, dass die Musik dabei hilft, das alles zu überleben. Jetzt sehen wir ganz praktisch, dass Musik heilen, unterstützen und Hoffnung spenden kann, wenn man sie spielt, wenn man sie hört. Das ist keine abstrakte Idee mehr, das ist real. Diese Hoffnung wollen wir allen vermitteln – und auch uns selbst.“ Wann die Idee dafür kam? Gut einen Monat dürfte das nun her sein, die Zeit rast ja, während sie doch auch stillsteht. Konkret begonnen habe alles am 13. März, als ihr Präsident Wolodymyr Selenskyj beschlossen habe, eine „Kulturfront“ zu eröffnen, berichtet Stavychenko.

Sie seufzt kurz bei der Frage, wie intensiv an der Blitz-Tournee gearbeitet wurde. „Mir kam das ewig vor, als ob ich Tage oder Wochen weder geschlafen noch gegessen hätte.“ Und nicht nur das – sie pendelt ja auch noch zwischen Polen und Frankreich. „Ziemlich groß“ dürfte als Einschätzung des Dauer-Drucks arg untertrieben sein. Aber: „Der Einsatz des Orchesters ist unglaublich. Sie konnten seit Ausbruch des Kriegs weder üben noch proben. Erst jetzt, in Sicherheit in Polen, können sie wieder professionell arbeiten. Und vom ersten Ton an war deutlich, wie sehr sie jetzt auf die Musik fokussiert sind. Es ist inspirierend und brillant, wie sie spielen.“

Sinfonie von Borys Ljatoschynskyj ist das Hauptwerk

Was sie spielen werden, ist im Westen bislang wohl nur wenigen Spezialisten schon ein Begriff. Hauptwerk des Konzerts ist die 3. Sinfonie von Borys Ljatoschynskyj (1895–1968), der als feste, riesige Größe der ukrainischen Orchestermusik des 20. Jahrhunderts gilt – und von dem hierzulande wahrscheinlich kaum jemand je auch nur eine Note gehört hat. Seine Dritte trägt den pazifistischen Untertitel „Frieden wird den Krieg gewinnen“, der seit dem 24. Februar ganz anders klingt. Seine Dritte wurde 1951 in Kiew uraufgeführt und gefeiert – und ließ ihn prompt bei der Zensur und den Mächtigen in Ungnade fallen.

Zur Probe in Warschau  traf Dirigent Luigi Gaggero auf Piotr Gliński, Polens stellvertretenden Ministerpräsidenten.
Zur Probe in Warschau traf Dirigent Luigi Gaggero auf Piotr Gliński, Polens stellvertretenden Ministerpräsidenten. © Kiyiv Symphony Orchestra

Deren Ende war ihnen nicht systemtreu jubelnd genug. Er wurde zu einem optimistischeren Finale gezwungen (ein Vorgang, der entfernt an Schostakowitschs Vierte erinnert, die er 1936 zurückzog, weil er ins tödliche Fadenkreuz Stalins geraten war und die dann erst 1961 uraufgeführt wurde). 1955 wurde Ljatoschynskyjs Happy-End-Version seiner Dritten in Leningrad präsentiert. Ohne den Untertitel. Das KSO spielt die erste Version. „Natürlich“, sagt Stavychenko.

Sinfonie von Berezovsky faszinierend und unbekannt

Auf andere Weise faszinierend – und noch unbekannter – ist die 1. Sinfonie von Maxim Berezovsky, der elf Jahre vor Mozart geboren wurde und in Italien den gleichen Kontrapunktlehrer hatte wie das junge Wolferl. Die C-Dur-Sinfonie ist ein reizendes Stückchen reinster Klassik, lange verloren geglaubt und erst 2002 in den Archiven des Vatikans wiederentdeckt. Auch sie gilt als ein Schlüsselwerk, als ein musikalisches Nationalheiligtum.

„Unsere zentrale Botschaft ist es, dem internationalen Publikum beim Entdecken von Musik aus der Ukraine zu helfen. Und ebenso die Qualität dieses Orchesters“, erläutert Stavychenko die patriotische Zusammenstellung. „Darum geht es: in diesen finsteren Tagen zu zeigen, wer wir sind. Alle sehen ständig die schrecklichen Nachrichten aus der Ukraine. Wir wollen, dass man auch unsere Kultur kennenlernt und versteht. Denn das brauchen wir.“

Konzept soll auf Orchester übertragen werden

In Paris ist Stavychenko auch wegen eines weiteren Projekts: Fünf ukrainische Musikerinnen und Musiker, in ganz Europa verstreut, haben bereits eine Bleibe bis zum Ende der Saison im Orchestre de Paris gefunden, mit Dutzenden anderen steht man im Kontakt. Eine Idee der Philharmonie, gemeinsam mit ihrem Orchester wahr gemacht und finanziert auch mit privater Hilfe. Inzwischen wissen etliche Orchester in Frankreich davon, täglich kommen Anfragen-Angebote herein, berichtet Stavychenko. Es sei „wirklich unglaublich, was hier passiert, und wie sehr die Musik ihnen hilft, wieder ein Leben zu haben. Sie können wieder spielen, sie können wieder tun, wofür sie ausgebildet wurden.“

Noch gibt es keine Übertragung dieser Aktion auf Deutschland, doch es wird an einem Handlungs-Raster gearbeitet, um dieses Konzept schnell auf weitere Orchester zu übertragen. Und als wäre das noch nicht genug, hatte Stavychenko auch noch Programm-Entwürfe mit Repertoire aus der Ukraine zusammengestellt. Damit aufführungswillige westliche Orchester wissen, was es gibt und was davon für ihre Spielpläne infrage käme. Zu Hause probte das KSO in einer stattlichen, traditionellen Halle und hatte immer mehrere Konzertoptionen.

Nach Kriegsende hoffen sie auf einen coolen Konzertsaal

Im September stemmten sie Wagners „Tristan und Isolde“, eine Premiere für die Ukraine; sie gaben aber auch Konzerte, bei denen Electro und Barock kombiniert werden. „Wir träumen noch von einem eigenen, coolen Konzertsaal“, erzählt Stavychenko. „Wenn der Krieg zu Ende ist, sind wir unserem Traum hoffentlich etwas näher, weil – das hoffe ich wirklich – das ein idealer Zeitpunkt wäre, um mehr in die Kultur zu investieren.“

Im Januar war der Krieg mit Russland aus ukrainischer Sicht schon acht Jahre alt. Für viele im Westen begann er wohl erst am 24. Februar. Damals also hatte Stavychenko in einem „Spiegel“-Feature über ihre Heimat gesagt: „Wenn wir Angst haben, haben die anderen schon gewonnen.“ Also hat nun niemand im Orchester Angst? „Das kann man jetzt sehen. Unsere Musikerinnen und Musiker waren tapfer genug, um auf diese Reise zu gehen, um wieder zu spielen. Trotz der Gefahr, aus Kiew und vielen anderen ukrainischen Städten anzureisen, trotz des Stresses, trotz der Müdigkeit … Also: Ja. Man muss tapfer sein und alles tun, was man kann.“

Elbphilharmonie: Geigerin will Land mit Musik unterstützen

Die Geigerin hatte es einen Tag zuvor so formuliert: „In diesem Moment sind wir die Stimme unseres Landes. Wir sollen der Welt zeigen, wie schön unsere Heimat ist, was für schöne Menschen wir haben. Als Druck empfinde ich das nicht, weil ich weiß, dass ich das Richtige tue. Unser Volk kämpft für unser Land. So viele sind zu Soldaten geworden. Ich kann kein Gewehr nehmen, aber ich kann für mein Land kämpfen, wie ich es am besten vermag: Ich kann Musik spielen und so mein Land unterstützen. Dieser Wahnsinn muss ein Ende haben.“ Am Abend des 23. Februar hatte Julia Nieporozhnieva Musikunterricht gegeben.

Konzert: 1. Mai, 19.30 Uhr, Elbphilharmonie, Großer Saal: Benefizkonzert für die Ukraine. Kyiv Symphony Orchestra, Luigi Gaggero (Dirigent), Aleksey Semenenko (Violine). Werke von Berezovsky, Chausson, Skoryk und Ljatoschynskyj. Die Honorare für das Orchester werden von privaten Förderern übernommen. Sämtliche Einnahmen kommen dem „Bündnis Ukrainehilfe Hamburg“ zugute. Die Nachfrage ist groß, nur eventuell gibt es sehr wenige Restkarten an der Abendkasse