Vor zehn Jahren starb Wolfgang Herrndorf. Sein Schicksal bewegte viele. Ein Buch porträtiert nun seine Kindheit in Norderstedt.

Wolfgang Herrndorf hat Germanisten gehasst und alles Überakademische. Das dürfte manche handelsübliche, womöglich meist deutschsprachige Literatur mit eingeschlossen haben. Herrndorf hielt das Attribut der „Durchlesbarkeit“ für enorm wichtig. Und Hermetik war dem Schriftsteller wirklich völlig fremd. Im Gegenteil: Herrndorfs Überhit „Tschick“ ist das durchlässigste und durchlesbarste Buch, das man sich denken kann. Ein All-Generationen-Roman und durchaus auch ein Bestseller für alle Gesellschaftsschichten. „Tschick“ ist immerhin Schulstoff. „Tschick“ war stilbildend und machte die Disziplin des „Jugendromans auch für erwachsene Leserinnen und Leser“ zum Erfolgsgenre.

Wie viele jugendliche Helden gab es seitdem in der deutschsprachigen Literatur! Aber niemand von ihnen ist so unvergesslich wie Maik Klingenberg und Andrej Tschichatschow, das Lada-Duo in „Tschick“. 13 Jahre alt ist der moderne Klassiker „Tschick“ mittlerweile. Und Wolfgang Herrndorf, sein spätberufener, früh vollendeter Schöpfer, ist schon seit zehn Jahren tot. In der Nacht vom 26. auf den 27. August 2013 nahm er sich am Hohenzollernkanal in Berlin das Leben. Er war unheilbar an einem Hirntumor erkrankt.

Biografie über Wolfgang Herrndorf: Der größte Autor seiner Generation

Sein Biograf Tobias Rüther nennt den 1965 in Hamburg geborenen „Tschick“-Erfinder nun den „größten deutschsprachigen Schriftsteller seiner Generation“. Und man muss das für eine geringfügige Übertreibung halten und gleichzeitig für absolut wahr. Rüther, der als Literaturchef bei der „Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung“ arbeitet, kannte Herrndorf nicht persönlich, gehörte aber eine Zeit lang zum Schreiber-Forum Höfliche Paparazzi, in dem Herrndorf sehr aktiv war. Mit „Herrndorf. Eine Biographie“ setzt Rüther dem Dichter, der zeit seines zu kurzen Lebens lediglich drei Romane und einen Erzählband veröffentlichte, nun ein Denkmal.

Ein zusammengeschweißtes Metallkreuz am Hohenzollernkanal in Berlin, dem Ort, an dem sich der todkranke Autor Wolfgang Herrndorf das Leben nahm. Aufnahme von 2013.
Ein zusammengeschweißtes Metallkreuz am Hohenzollernkanal in Berlin, dem Ort, an dem sich der todkranke Autor Wolfgang Herrndorf das Leben nahm. Aufnahme von 2013. © picture alliance / dpa | Stephanie Pilick

Diese Biographie ist ein Komplementärstück zu Herrndorfs Blog „Arbeit und Struktur“, der eine Art Sterbetagebuch war, ergreifend, intensiv, idiosynkratisch. Sie ist kenntnisreich und gut recherchiert. Rüther arbeitete mit dem Nachlass und führte viele Gespräche; unter anderem mit Herrndorfs Witwe und Nachlassverwalterin Carola Wimmer und seinen Eltern. Er sprach auch mit der Berliner Peergroup Herrndorfs, mit Kathrin Passig, Holm Friebe und anderen. Gerade Letzteres ist, nach der Lektüre von „Arbeit und Struktur“, das postum im Herbst 2013 auch in Buchform erschien, eher ein Bonus.

Über Herrndorfs soziale und künstlerische Erweckung in Berlin, sein Aufblühen in den Kulturkontexten von Berlin-Mitte und vor allem dem Internetforum ist tatsächlich schon einiges bekannt. Man liest Rüthers Kapitel über Herrndorfs Gegenanschreiben, seinen schreiberischen Wettlauf gegen den Tod einmal mehr gebannt. Liest von der manischen Attacke, die er nach der ersten OP hat, von seiner verzweifelten Suche nach der Weltformel, als er sich mit seinen Freunden trifft. Er will ihnen diese Formel vortragen und sich und ihnen Mut machen, und dann scheitert er im Panikmodus.

„Tschick“-Schöpfer Herrndorf: Er schrieb auch in Wartezimmern

Man bewundert noch einmal, wie beherzt und verzweifelt Herrndorf die Todesangst wegarbeitete – seine Literatur entstand auch in Wartezimmern und Krankenhäusern, vor Bestrahlung oder Blutabnahme –, und wie er mit seinem auf Ironie gebürsteten Humorapparat auch die allerschwerste Prüfung zu bestehen versuchte. Mit seiner alten Freundin Passig rechnete er nach der Diagnose Hirntumor seine Restlebenszeit durch. Er wird die durchschnittlichen 17 Monate am Ende übertreffen, wird leben, reisen, weinen. Wird dem Leben noch alles abpressen, die letzten Arbeitsreserven freisetzen.

Die in diesem Falle fürchterliche Ironie, dass er zum erfolgreichen Autor wurde, als seine Tage gezählt waren, bleibt bei Rüther etwas unterbelichtet. Vielleicht ist da aber auch gar nicht so viel zu zu sagen, weder von Herrndorf selbst noch seinem sozialen Umfeld oder seinem Biografen: War halt so, ein perfekt geschriebenes Buch, das wahrscheinlich ein Hit werden musste, erschien ausgerechnet zu einem Zeitpunkt, an dem sein Autor dessen Erfolg gegen eine Wunderheilung eingetauscht hätte.

Als Gunnar Schmidt, der Rowohlt-Mann, Herrndorf Mitte Oktober 2010 anrief, um ihm von den ersten beeindruckenden Verkäufen zu berichten, war es, berichtet Rüther, erst einmal still in der Leitung. Dann habe Herrndorf, der vorherige Geheimtipp-Autor, gesagt: „Ich habe noch nie eine zweite Auflage gehabt.“ Sein Weg in die Literatur war wahrscheinlich nicht vorherbestimmt. Zunächst gestaltete der zeitweilige „Titanic“-Illustrator die Cover anderer Autoren. Er sei „Buchumschlagdekorateur“, sagte er seinen Freunden.

Herrndorf in Norderstedt: Hier verbrachte er Kindheit und Jugend

Die Essenz dieser stilistisch überzeugenden Herrndorf-Biografie, der größte Lektüregewinn, liegt aber nicht in Berlin. Er findet sich in den Nürnberg gewidmeten Kapiteln. Herrndorf lebte zehn Jahre dort und studierte Malerei an der Akademie der Bildenden Künste. Er findet sich in Norderstedt, wo Herrndorf Kindheit und Jugend verbrachte.

Die Nürnberg-Zeit war, so sah es Herrndorf überwiegend selbst, irgendwann so etwas wie sein Nullpunkt, verlorene Jahre. Er brachte sein Studienfach zu Ende, obwohl er von Anfang an ein Scheiternder war. Herrndorf mochte die Moderne nicht, er wollte die Wirklichkeit so realistisch abbilden wie Albrecht Dürer. Mit diesem Programm stieß er auf erhebliche Widerstände bei seiner Professorin, die er verachtete, und bei seinen Kommilitonen. Herrndorf war stur, er ging seine einsamen Weg weiter. Wie jeder Biograf sucht Rüther Verbindungsstücke zwischen den Biografie-Phasen seines Betrachtungsgegenstands, setzt das Mittel der Psychologie aber nur sparsam ein.

Wolfgang Herrndorf scherte sich nicht um Konventionen

Man erfährt über die Nürnberg-Jahre viel aus Briefen Herrndorfs an seinen Freund Calvin und aus Gesprächen Rüthers mit diesem. Herrndorf war Nonkonformist und nicht willens, sich anzupassen. Er lebte spartanisch und am Existenzminimum, war dabei aber frei, so empfand er es. Herrndorf lief mal barfuß ins germanistische Seminar an der Erlanger Uni. Er ging im zerlöcherten T-Shirt zur Abizeugnis-Verleihung (beste Fächer: Physik und Mathe, Abi-Schnitt 1,5) am Norderstedter Coppernicus-Gymnasium.

Er wusste, dass er klug war; manchmal stieß er andere mit seinen Urteilen vor den Kopf. Es war ihm wohl oft nicht wichtig, wie er wirkte, schlussfolgert Rüther. Dessen Bericht aus Herrndorfs Leben ist empathisch und daran interessiert, das Besondere im Werdegang und Talent des Autors herauszuarbeiten. Die Saat für das Spätere wird in der Kindheit gelegt? Das muss kein Klischee ein. Es war seine Norderstedter Kindheit, in die Herrndorf als Maler und Autor immer wieder zurückkehrte. Und sich an den Blick erinnerte, den er im Garstedter Idyll auf die Felder hatte. Ein paar seiner frühesten Kinderfreunde kommen zu Wort.

Herrndorfs Vater war Realschullehrer in Norderstedt

Es entsteht das Bild eines Jungen, der sportlich ist, aktiv, gut mit den Händen, zum Beispiel beim Töpfern, künstlerisch begabt, der Freunde hat, obwohl er manchmal eigen ist, introvertiert. Sein Vater Christian Herrndorf ist Realschullehrer, seine Mutter Katrin leitet eine Tanzgruppe und betreut die Kinder einer Vorschulgruppe. Tobias Rüther schreibt: „Sie könnten den Perfektionsdrang in Ihrem Sohn angelegt haben, die Unerbittlichkeit im Urteil gegen sich und andere – indem Sie Wolfgang von klein auf Ehrgeiz und Siegeswillen vorlebten, anerzogen und einimpften, und all das dann auch gemeinsam mit dem Sohn auslebten. Und zwar: im Sport. Katrin Herrndorf erinnert sich an einen Wintertag in Norderstedt, als die Kälte die nahe Kiesgrube zufrieren ließ und die drei zum Eishockeyspielen rausgingen, am Eis auf ein paar junge Sportstudenten trafen, die sie zum Match herausforderten: Team Herrndorf gewinnt. Danach sitzen Vater, Mutter und Sohn, Seite an Seite, und genießen den Moment, ohne viel zu sagen, es ist ja eh alles klar.“

Tobias Rüther: „Herrndorf. Eine Biographie“. Rowohlt. 384 S., 25 Euro
Tobias Rüther: „Herrndorf. Eine Biographie“. Rowohlt. 384 S., 25 Euro

Herrndorf, so schildert es dieses Buch, war ein Freigeist, der lange auf bürgerliche Sicherheiten in seinem Leben verzichtete. Klassische Arbeitszeiten kannte er nicht. Bevor er studierte, arbeitete er aber mal als junger Mann bei der Druckerei Wulf-Offset in Norderstedt – ein Pflichtpraktikum. Unmittelbar vorher gab es bei einer Mandel-operation im Krankenhaus Barmbek Komplikationen. Daraufhin zeigten sich auf einer MRT-Aufnahme Flecken in seinem Gehirn. Fehlalarm: Das MRT-Gerät war defekt.

Herrndorf-Biografie: Einstige Freunde erkannten sich in „Tschick“ wieder

Rüthers an Geschichten interessiertes Buch berichtet auch, aber nie zu intim, von der Beziehung Herrndorfs zu seinen Eltern. In Norderstedt hatten viele „Tschick“ gelesen, als der Roman abging wie eine Rakete. Ehemalige Freunde erkannten sich wieder. Und in der Mutter seines Protagonisten Maik Klingenberg wollten andere Leser Herrndorfs eigene Mutter erkennen. Nachbarn fragen sie, wann sie denn, wie die Romanfigur, in der Entzugsklinik gewesen sei. Eine Bekannte („Das ist doch nichts Schlimmes!“) wollte Katrin Herrndorf auch auf deren Erklärung hin, dass sie nie alkoholsüchtig war, diese Richtigstellung nicht glauben. „Ihr Sohn hört nicht auf zu lachen, als sie ihm das berichtet“, schreibt Rüther.

Diese Biografie erzählt auch vom am Abgrund seiner Existenz humorbereiten Menschen Wolfgang Herrndorf, und sie ruft den Autor Wolfgang Herrndorf in Erinnerung, von dem man noch viel hätte erwarten können.

Man könnte übrigens mal wieder „Tschick“ lesen oder „Sand“.