Hamburg. Der Band „Stimmen“ versammelt unbekannte Texte des Autors des Bestsellers „Tschick“, der viel zu früh starb.
Wolfgang Herrndorf war praktisch nur Eingeweihten ein Begriff, als sein drittes Buch im Jahr 2010 erschien. „Tschick“, jenes zauberhafte, überwältigende Allgenerationenwerk, das im Anschluss zu einem der größten Verkaufshits und meistgelesenen Romane der deutschsprachigen Gegenwartsliteratur wurde. Sicher, das liegt auch daran, dass es Schullektüre ist. Aber gerade was das angeht, ist zumindest Buchhändlern und Deutschpaukern der literarische Erregungszustand gestattet, der die gemeinsame Vater-Sohn-Lektüre bejubelt.
Kann aber auch sein, dass der junge Leser dem alten eh nur vorhält, er lasse sich von einem „total alten“ (also Ü-30-)Autor mit einer mächtigen Nostalgierakete auf die Literaturumlaufbahn schießen, wo man als originaler Jungmensch aber gerade wegen Tschick und Maik, den „total unglaubwürdigen“ Charakteren, niemals so leicht gelangen könne. So in etwa könnte es gehen, aber vielleicht unterschätzt man hier auch die Jugend.
Auch sie wird wissen, dass Herrndorf, der formidable, auch spezielle Autor, tragischerweise gar nicht „total alt“ geworden ist. 2010 war das Jahr, in dem bei Herrndorf, 1965 in Hamburg geboren, ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert wurde. Drei Jahre später starb der Wahlberliner als preisgekrönter Bestsellerautor. Nicht ohne den Nachlass geregelt zu haben. Zu Lebzeiten erschien noch die glorreich verjuxte Agentenklamotte „Sand“, nach seinem Tod das Internettagebuch „Arbeit und Struktur“ sowie das vom Autor freigegebene Fragment „Bilder deiner großen Liebe“, eine Art Fortsetzung von „Tschick“.
Herrndorf schrieb unaufhörlich
Herrndorf hatte eine genaue Vorstellung davon, was der Nachwelt überliefert werden sollte und was nicht. Nachzulesen in „Arbeit und Struktur“: „Wieder einen Ordner Prosatexte weggeschmissen, schlechtes Zeug, gestern schon einen Packen aufwendiger Zeichnungen, an denen ich in meinem Studium viele Monate gearbeitet hatte, meine ersten Comics. Alles schlecht.“
Als Maler machte Herrndorf nicht Karriere. Der Teil seines Werks, den er als wertvoll erachtete, wurde zuletzt auch im Stader Museum gezeigt: eine sich zwischen Parodie und Imitat bewegende, handwerklich profunde Sammlung, die etwas über den Menschen und Künstler Herrndorf verriet und insbesondere über seinen Humor.
Der Bannstrahl des Schöpfers ist im Falle Herrndorfs in gewisser Weise ein Kahlschläger: Das Malen ließ er in radikaler Absicht ganz hinter sich. Das Schreiben war das Feld, in das er sich spät stürzte. Herrndorfs Debütroman „In Plüschgewittern“ erschien 2002 und danach bis „Tschick“ lediglich der Erzählungsband „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“. Aber Herrndorf schrieb unaufhörlich, er tat dies im Internetforum „Wir höflichen Paparazzi“, wo er unter dem Pseudonym „Stimmen“ literarische Texte veröffentlichte.
Herrndorf-Sound ist deutlich vernehmbar
Diese und andere, die an entlegenem Ort erschienen oder nur öffentlich vorgetragen wurden, sind in dem Band „Stimmen“ versammelt, der unlängst bei Rowohlt erschienen ist. Der Band stellt unweigerlich das allerletzte literarische Zeugnis des viel zu früh Gestorbenen dar. „Texte, die bleiben sollten“ heißt das schmale Kompendium programmatisch im Untertitel. Die Herausgeber Marcus Gärtner und Cornelius Reiber mussten auf viel Material verzichten: Ein Großteil der Texte, die Herrndorf auf seinem Laptop speicherte, sind gemäß der Wünsche des Autors nicht erhalten.
Für Komplettisten und Herrndorf-Fans ist diese letzte Lieferung, versteht sich, Pflicht. Aber es ist nicht so, dass die Stücke in „Stimmen“ ausgereift und ausgefeilt wären. Das Talent des Autors kündigt sich in den Prosa-Miniaturen immerhin deutlich an. Die Lyrik, ein paar Gedichte nämlich, ist eher zu vernachlässigen, aber halt auch nicht uninteressant – für Herrndorf-Spezialisten, die wissen wollen, wie er literarisch wurde, wer er war.
Der Herrndorf-Sound ist deutlich vernehmbar. In der ersten Geschichte, die von der allerersten, der allerfrühesten Liebe handelt – der zu einem Nachbarmädchen. Herrndorfs Prosa beschwört die Magie des ersten Mals, der gefühlsmäßigen Sensation: Der Mensch entdeckt die Welt ganz neu in seiner Beziehung zu anderen. Die Kehrseite sind Tristesse und Einsamkeit, die am Ende von Liebesgeschichten stehen, ob man fünf ist oder 35. Der frühe Herrndorf widmet sich hingebungsvoll dem Trübsinn. Das Leben ist für seinen Erzähler wie ein leerer Strand: „Gern würde ich ja sagen, das Meer rauschte, aber es rauscht nicht ...“
Inspiration für „Tschick“
Es ist kein Zufall, dass es junge Menschen sind, die den Erzähler aus dem Daseinsfrust reißen. Irgendwo spielt immer jemand Volleyball. Der Strand ist gar nicht leer. Die Stelle stammt aus einer Erzählung, die eine Art Frühversion von „Tschick“ ist . Der Erzähler klaut mitten in Berlin ein Auto und düst raus aus der Stadt. Es ist ein Wartburg, kein Lada wie im Roman. Hauptsache Sozialismuskarre!
Der Beklaute in der Kurzgeschichte ist übrigens niemand anderes als Joachim Lottmann. Herrndorfs Schriftstellerkollege also, der für seine Wartburg-Exkursionen durch Berlin-Mitte berühmt war und, warum ist man bislang nicht darauf gekommen?, vielleicht eine entscheidende Inspiration für „Tschick“ war. In einem anderen Text ist der Erzähler mit dem Fahrrad unterwegs auf ein in der Berlincity-jenseitigen Walachei gelegenes Fest und verirrt sich bei der Rückfahrt heillos im Wald. Da kann man schon mal panisch werden, wer kennt das nicht? Herrndorf ist immer dann gut, wenn er den Leser zur Identifikation einlädt.
Die autobiografisch anmutenden Miniaturen sind Skizzen eines empfindsamen Lebens, mal sind sie subtil, mal auf die Zwölf. Was Letzteres angeht, kennt man die Deutlichkeit aus „Arbeit und Struktur“. Auch in „Stimmen“ gibt es den essayistischen Herrndorf, der nicht immer überzeugend argumentiert, aber eine wenig schüchterne Pointiertheit zwischen Wut und Witz findet und der meinungsstark Ansagen macht. Bekannt geworden ist diese, mit der er seinem essayistischen Schreiben einen doppelten Boden gab: „Falls ich jemals etwas anderes als reine Fiktion schreiben sollte, erschießen Sie mich bitte.“ Herrndorf teilte sich gerne über seine Leseerfahrungen mit, er liebte, und er hasste – und er hatte zu Literaturkritikern folgende Einstellung: „Wer in der Literatur Bestimmtes verlangt, soll es sich selbst schreiben oder sich ins Knie ficken.“