Norderstedt. Gastbeitrag: Der Publizist und Filmjournalist Michael Töteberg schreibt über den weltweiten Erfolg von Wolfgang Herrndorfs Roman „Tschick“.

Ein Roman erobert die Welt. „Tschick“ von Wolfgang Herrndorf ist mit mehr als zwei Millionen verkauften Büchern, Theater-, Film- und Opern­adaptionen ein Megabestseller. Nicht nur in Deutschland. Ein Kultbuch für junge Menschen, übersetzt in 38 Sprachen. Ins Englische, Französische, Spanische. Man kann die Geschichte der beiden Jungen, die mit dem geklauten Lada in die Walachei aufbrechen, auch auf Japanisch, Chinesisch oder Griechisch lesen, auf Russisch oder Georgisch.

Das Buch sieht in den verschiedenen Ländern immer anders aus. Meist ist ein Auto auf dem Umschlag abgebildet und aus „Tschick“ wurde „Tsjik“, „Cik“, „Czik“ oder „Csikk“. Das kann man noch erkennen, aber nicht alle Übersetzungen sind beim Originaltitel geblieben. Wer zuerst auf die Idee kam, dass sich das Buch vielleicht mit „Berlin“ im Titel besser verkauft, ist nicht mehr auszumachen. „Goodbye Berlin“ heißt „Tschick“ in Frankreich, Italien, Spanien, „Adeus, Berlin“ in Portugal. In den USA wurde daraus „Why We Took the Car“, Albanien wollte dem nicht nachstehen: „Pse e rrembyem makinen“ heißt, glaubt man dem Google-Übersetzer, ungefähr dasselbe. Für die finnische Version braucht man keinen Übersetzer: „Ladaromaani“.

Ein Denkmal für Bumerang-Experten Wilhelm Bretfeld

Bevor Maik Klingenberg sich mit Andrej „Tschick“ Tschichatschow auf die abenteuerliche Reise begibt, hockt er während der Ferien im Keller und schnitzt Bumerangs. „Ein Leh­rer von mir, einer aus der Grundschule, hat mir das beige­bracht. Das war der totale Fachmann im Bumerangbereich. Bretfeld hieß der, Wilhelm Bretfeld.“ Das lesen nun Menschen in aller Welt.

„He was an expert in the boomerang department. Bretfeld was his name, Wilhelm Bretfeld”, die amerikanischen Kids, „Le vrai spécialiste dans le domaine du boomerang. Bretfeld, il s’appelait, Wil­helm Bretfeld”, die französischen. Überall auf der Welt hält man Bretfeld für eine fiktive Figur, eine literarische Erfindung wie Maik und Tschick, nur die Norderstedter wissen es besser.

Wolfgang Herrndorf, aufgewachsen in Norderstedt, hat seine Geschichte zwar in Berlin angesiedelt, aber seine eigenen Schulerlebnisse darin verwendet. Bretfeld war einer seiner Lehrer an der Grundschule, und Herrndorf hat dem im Oktober 2003 verstorbenen Pädagogen in „Tschick“ ein literarisches Denkmal gesetzt. Tatsächlich war Bretfeld ein Bumerang-Spezialist. „Der hat sogar ein Buch darüber geschrieben. Sogar zwei Bücher“, heißt es im Roman, und auch das stimmt: „Das Bumerang-Buch“, Untertitel „Wie man Bumerangs baut, wirft, fängt und warum sie fliegen“, 1985 erstmals erschienen und mehrfach aufgelegt, ist ein Standardwerk für alle Freunde dieses Sports. Das zweite Buch, „Der Flug des Bumerangs“, ist ein Sachbuch über Australien, da ist Bretfeld mit einem Beitrag zu seinem Lieblingsthema vertreten. Bretfelds Bumerang-Leidenschaft hatte auch eine missionarische Seite. In seinem Buch bot er seinen Service an: „Der Autor nimmt Bumerangs aus Leserkreisen in Empfang, die nicht befriedigend fliegen. Er fliegt sie ein und sendet sie zurück. DM 5,- für Porto und Verpackung beilegen.“ Er war gern auch bereit, praktische Hilfestellungen beim Bauen, Werfens und Fangens zu geben.

Zurück zum Roman. Als Mike längst aus der Grundschule raus ist, trifft er den alten, pensionierten Bretfeld noch mal auf einer Wiese hinter ihrem Haus, wo er seine Bumerangs wirft. Mike staunt: „Wo ich dachte, das gibt’s nur im Film, dass die wirklich zu einem zurückkommen. Aber Bretfeld war der Vollprofi, und der hat es mir dann gezeigt. Ich fand das wahnsinnig beeindru­ckend. Auch dass er seine Bumerangs alle selbst geschnitzt und bemalt hat.“ Klar, dass Mike ihm im Keller nacheifert.

„Was mich aber am meisten umgehauen hat, war dieser Langzeitflugbumerang. Das war ein von ihm selbst entwickelter Bumerang, der konnte minutenlang fliegen, und den hat er erfunden. Überall auf der Welt, wenn heute jemand einen Langzeitflugbumerang wirft und der bleibt fünf Minuten in der Luft, dann wird ein Foto gemacht, und dann steht da: basierend auf einem Design von Wilhelm Bretfeld.“

Ein Norderstedter Bumerang erobert die Welt

Bretfeld schaffte es mit seinen Bumerang-Künsten sogar einmal in den „Spiegel“. Am 18. August 1986 vermeldete das Nachrichtenmagazin: „Das ‚Bretfeld-Design‘ eines Langfliegers verhalf dem Amerikaner Peter Ruhf zum Weltrekord im Langzeitflug – eine Minute und 35 Sekunden ‚mit Catch‘, anschließendem Fang. „Der ist also prak­tisch weltbekannt, dieser Bretfeld“, sinniert Mike in Herrndorfs Roman. „Und der steht da letzten Sommer auf der Kuhwiese hinter unserem Haus und zeigt mir das. Wirklich ein guter Lehrer. Das hatte ich auf der Grundschule gar nicht bemerkt.“

„A really good teacher“, heißt es in der US-Ausgabe, „Vraiment un bon prof“, in der französischen. Ein cooles Zeugnis für einen Lehrer, multilingual ausgestellt. „Un bravo insegnante“ (italienisch), „Tikrai geras mokytojas“ (litauisch), „Tosi hyvä opettaja“ (finnisch), „Tényleg jó tanár“ (ungarisch).

Herrndorfs Buch ist Schullektüre. Es gibt Interpretationshilfen, Lektüreschlüssel und Lehrerbegleithefte. Im Reclam-Heftchen zu „Tschick“ gibt es Erläuterungen. Da tauchen alle Namen von Personen auf: Hagecius, Hunnenkönig Attila, Megan Fox, Michael Schuhmacher, Dirk Nowitzki, Selma Hayek, Beyoncé usw. Sogar ein Eintrag zu „Angela Merkel: zum Zeitpunkt der Erzählung Bundeskanzlerin“ ist dort zu finden. Nur Wilhelm Bretfeld sucht man vergebens. Nicht so schlimm: Herrndorf hat ihn mit „Tschick“ verewigt.

Viele halten Bretfeld für eine fiktive Figur – die Norderstedter wissen es besser!
Michael Töteberg