Als er 44 war, erfuhr er, dass er unheilbar an Krebs erkrankt ist. Als er 48 war, erschoss sich der Romanautor Wolfgang Herrndorf. Vorher schrieb er im Internet Tagebuch. Ein außergewöhnliches Dokument.
Anfang 2010 wurde bei dem Schriftsteller Wolfgang Herrndorf ein bösartiger Hirntumor diagnostiziert. Sein Werk war schmal bis zu diesem Zeitpunkt: 2002 war der Roman „In Plüschgewittern“ erschienen, 2007 der Kurzgeschichtenband „Diesseits des Van-Allen-Gürtels“. Herrndorfs Name war nur Spezialisten ein Begriff. In einer konzentrierten Arbeitsphase stellte der todgeweihte Autor erst den Jugendroman „Tschick“ und dann „Sand“ fertig, einen eigenwilligen Spannungsroman. „Tschick“ stand mehr als ein Jahr auf der Bestsellerliste und wurde zum Lieblingsbuch nostalgischer Erwachsener und Lektüre im Deutschunterricht: Mit einem Male war Herrndorf ein gefragter Autor.
Der Urheber dieses Überraschungserfolgs aber war nicht zu sprechen, zumindest nicht persönlich. „Keine Anfragen, keine Interviews, keine Lesungen, keine Ausnahmen. Bitte schicken Sie mir keine Bücher, keine CDs und nichts, was über Briefformat hinausgeht“ stand und steht auf Wolfgang Herrndorfs Internetseite (www.wolfgang-herrndorf.de). Diese Seite ist immer noch online, sie war Herrndorfs Mitteilungsorgan und doch viel mehr. Herrndorfs Blog „Arbeit und Struktur“ war eine Art digitales Tagebuch, ein autobiografisches Projekt mit literarischem Hintergrund. Es erscheint jetzt, knapp drei Monate nach Herrndorfs Freitod, als Buch – und ist das Dokument eines Mannes, der Abschied von der Welt nimmt und einen Halt im Schreiben findet.
Herrndorf kam 1965 in Hamburg zur Welt. Er wuchs als Sohn eines Realschullehrers in Norderstedt auf und kam über Nürnberg, wo er Malerei studierte, nach Berlin. Dort war er lange ein klassischer Repräsentant des Kulturprekariats im Stadtteil Mitte, ehe er mit dem Schreiben Erfolg hatte. Sein Tagebuch ist immer wieder auch Reise in die Vergangenheit. Es setzt ein mit einer frühkindlichen Erinnerung. Unter der Überschrift „Dämmerung“ taucht Herrndorf in die Welt des Zweijährigen ein, der gerade aufgewacht ist und durch die Gitterstäbe in sein Zimmer sieht, durch das „bereits der frühe Morgen hineinflutet“. Er ist aufgehoben und sicher in dieser Umgebung, er wünscht sich, „dass es immer so bleibt“.
Angeblich wächst die Sentimentalität mit dem Alter, aber das ist Unsinn. Mein Blick war von Anfang an auf die Vergangenheit gerichtet. Als in Garstedt das Strohdachhaus abbrannte, als meine Mutter mir die Buchstaben erklärte, als ich Wachsmalstifte zur Einschulung bekam, und als ich in der Voliere die Fasanenfedern fand, immer dachte ich zurück, und immer wollte ich Stillstand, und fast jeden Morgen hoffte ich, die schöne Dämmerung würde sich noch einmal wiederholen.
Herrndorf berichtet in seinem Blog von seinem Alltag als Krebskranker: Am Anfang sind seine Berichte nicht öffentlich und nur für seine Freunde bestimmt. Der erste Eintrag datiert vom 8. März 2010, als Herrndorf nach einem manischen Anfall in die Psychiatrie eingeliefert wird; fortan referiert er immer wieder seine Arztbesuche, Operationen, Anfälle, Medizinverabreichungen, seine Krankenhausaufenthalte. Die Lektüre ist oft niederdrückend, manchmal aber auch lustig.
8.3.2010 13:00
Gestern haben sie mich eingeliefert. Ich trug ein Pinguinkostüm. (...) Gespräche mit den Ärzten laufen darauf hinaus, dass sie versuchen, mir Erinnerungslücken nachzuweisen, weil ich mich an sie und ihre Namen nicht erinnere. Mich nennen sie grundsätzlich Hernsdorf. (...) „Fällt Ihnen auf, wie schnell Sie sprechen?“ Ja, ich denke aber auch schnell, ungefähr dreimal so schnell wie sonst, und zehnmal so viel.
13.3.2010 11:00
Gib mir ein Jahr, Herrgott, an den ich nicht glaube, und ich werde fertig mit allem. (geweint)
20.3.2010 8:00
(...) Traum: Bei der Entlassung geben die Ärzte mir sieben Valium, die „sicher tödlich sind“. Ich schlucke zu Hause zwei oder drei, um mich zu beruhigen. Dann fürchte ich, sie könnten mich in dieser Dosierung bereits einschläfern, und pule den zerkauten Rest aus der Mundhöhle. Wie viel habe ich jetzt genommen? Ich frage die Ärzte, ab wie viel Tabletten genau es aus ist. Zwei, sagen sie. Ich trinke eine Schüssel Salzwasser und weiß: Ich brauche eine Waffe.
23.3.2010 6:55
In der Bestrahlung vor mir ein etwa gleichalter Mann mit einer senkrechten Narbe auf der Stirn. Sieht deutlich attraktiver aus als bei mir, wo ich vorgestern beim Haareschneiden feststellen musste, dass meine Seite wirkt wie ein von Andy Warhol gestaltetes, von behinderten Kindern abgezeichnetes Rolling-Stones-Cover.
28.3.2010 21:44
Die letzten Tage den Jugendroman gesichtet und umgebaut, Übersicht erstellt, einzelne Kapitel überarbeitet, neue entworfen. Jetzt von Anfang an: jeden Tag mindestens ein Kapitel. In spätestens 52 Tagen ist es fertig. Heute: Kapitel 1.
28.3.2010 22:30
Je länger man googelt, desto sicherer sinkt die Wahrscheinlichkeit, ein Jahr zu überleben, unter 50%. Immer noch ohne Schlafmittel.
29.3.2010 12:30
Termin bei Prof. Moskopp und ein Treffer im Gen-Lotto: Ich hab die Scheißmethylgruppe. Ich bin hypermethyliert. Der entscheidende Marker, ob der Körper auf Temodal wahrscheinlich überhaupt anspricht. Und jetzt fick dich in deinen kleinen, gottlosen, unhypermethylierten Arsch, du Dreck von einem Krebs. Die Wahrscheinlichkeit war 45 Prozent. Die Folge sind ein paar Wochen oder Monate. Statistisch. Statistisch ist es aber auch so: Nach zwei Jahren wird die Kurve flach. (...)
9.4.2010 8:10
Auf Wiedersehen, Haare.
Herrndorfs Tagebuch ist auch ein Bericht vom Schreibtisch: Der Autor kämpft einerseits gegen seinen Tumor, andererseits kämpft er um die Vollendung seines Werks. Es ist ein Ringen mit der Zeit, die bleibt, und es ist ein Ringen mit den Selbstzweifeln. Immer wieder berichtet Herrndorf von seinen Lese-Erlebnissen. „Arbeit und Struktur“ ist auch das Zeugnis eines Literatur-Enthusiasten.
19.7.2010 11:33
(...) Die Fahnen sind im Haus. Lese sie maximal unbegeistert. Wobei das weder mit dem Roman noch mit meinem Zustand zu tun haben muss, das war beim Fahnenkorrigieren immer so.
Und auch das ist wie immer: Mitten in der Nacht springe ich aus dem Bett und reiße Torberg, Hesse, Strunk, Bräuer, Kracht, Knowles aus dem Regal, um zu vergleichen: Warum funktioniert das bei denen, warum nicht bei mir? (...)
Man liest die auf eine kühle Bestandsaufnahme heruntergedimmten dramatischen Gedankengebäude Herrndorfs und bekommt nur annäherungsweise einen Eindruck, wie sich Panik anfühlt.
Auch die Lebensfreude hat ihren Platz in diesen Zeilen, das Fußballspielen, das Schwimmen, Treffen mit den Freunden, die Freude an einem Sonnenaufgang, Reisen ans Meer. Trotzdem ist Schreiben das Wichtigste. „Am besten geht’s mir, wenn ich arbeite“, erklärt Herrndorf einmal (19. 4. 2010). Die Dämonen kann auch das oft nicht fernhalten. Manchmal geht es ihm über Wochen gut, dann wieder macht sich die Krankheit bemerkbar. Es gibt eine Gefährtin namens C., die oft bei ihm ist, auch das ein Trost.
25.8.2010 16:31
Ich habe mich damit abgefunden, dass ich mich erschieße. Ich könnte mich nicht damit abfinden, vom Tumor zerlegt zu werden, aber ich kann mich damit abfinden, mich zu erschießen. Das ist der ganze Trick. Schon seit Tagen keine Beunruhigung mehr. Sobald ein Gedanke kommt, höre ich das geschmeidig klickende und einrastende Geräusch der Abzugsgruppe, und Ruhe ist. Die Ähnlichkeit zu meinem Verrücktsein ist unverkennbar. Nur dass ich jetzt nicht verrückt bin, meiner Meinung nach.
22.9.2010 23:55
(...) Immer die gleichen drei Dinge, die mir den Stecker ziehen: Die Freundlichkeit der Welt, die Schönheit der Natur, kleine Kinder.
25.9.2010 13:39
Mein Vater ruft an, weil er den ersten Roman seit Jahren oder Jahrzehnten gelesen hat. Und er war begeistert. Es habe ihn in seine Schulzeit zurückversetzt.
Herrndorf ist mit seinen Büchern zu einem Chronisten von Berlin-Mitte geworden. Die Entscheidung, dorthin zu ziehen, sei die beste seines Lebens gewesen; jetzt ist dieses Berlin der Schauplatz seines Sterbens, er lernt es noch einmal neu kennen, wenn er die medizinischen Abteilungen durchläuft. In den Sommerferien besucht er seine Eltern in deren Urlaubsdomizil an der See, es könnte immer das letzte Mal sein. Arztbesuche können Triumphe sein: „Also alles ok? Ja, alles ok. Im ersten Jahr sterben ist für Muschis.“ (22.12.2010 10:22). Herrndorf googelt Krankheitsbilder: „Mit der Diagnose leben geht, Leben ohne Hoffnung nicht.“ (6.1.2011 20:26), und manchmal vergisst er sogar das unvermeidliche Ende seines Leidenswegs. Dann wieder lässt er jeden positiven Gedanken fahren.
4.4.2011 23:40
(...) Ich weiß selbst, dass ich mich mit positivem Denken, mit Sport und Lächeln und Arbeiten über etwas Bodenloses hinwegtäusche, aber wenn ich auf den letzten Metern noch derart infantil werden sollte, zu vergessen, dass es sich um Selbsttäuschung handelt, erschieße man mich bitte.
5.4.2011 13:30
(...) Befund: Nichts. Die roten Punkte, die vor einem Jahr kranzförmig um die Operationsstelle wucherten, sind verschwunden. In der Bäckerei auf die Donuts geheult.
29.6.2011 22:08
Gestern kurz entschlossen die Sachen gepackt, zwanzig Minuten später sitze ich im Zug nach Hamburg. Auf der Terrasse im Dämmerlicht, im Haus meiner Jugend, umgeben von Sauberkeit, blühendem Phlox und alten Gerüchen kann ich mir nicht vorstellen, sterblich zu sein.
Ab Sommer 2011 kommen verstärkt epileptische Anfälle, in denen Herrndorf nicht sprechen kann. Es geht ihm, auch nach weiteren Operationen, immer schlechter, es ist selbst beim Lesen schwer auszuhalten. Trotzdem gibt es auch immer wieder schöne Tage.
23.12.2011 19:00
Bei den Eltern. Mail eines anderen Glioblastoms, die ankündigt, die letzte zu sein.
Zwei Stunden im Regen spazieren gegangen. Glasmoorstraße, Hofweg, Grüner Weg, wo ich vor 26 Jahren ging, in einer ähnlichen Nacht, Strommasten und Mond über mir, schreiend. Egal, alles entsetzlich egal.
19.2.2012 10:20
Zwei Jahre. 73% derer, die Bestrahlung und Chemo hatten, sind tot, 90% derer mit Bestrahlung allein (UCLA, 2009).
22.6.2012 20:45
Fußball gespielt. Ball ins Gesicht bekommen, umgefallen. Hingesetzt, gewartet. Weitergespielt, wieder umgefallen. Aufgehört. Mit dem Fahrrad nach Hause, nicht umgefallen. Gebadet mit Ausblick über Berlin und auf den Sonnenuntergang. Der Rechner auf der Waschmaschine zeigt Deutschland – Griechenland. Mein Leben, immer noch mein Leben.
6.3.2013 5:53
Guten Morgen, Sterne
Guten Morgen, schwarzer Kanal
Guten Morgen, Schornsteine, Brücken, Hochhäuser und Kräne
Guten Morgen, Viertelmond
Guten Morgen, goldschimmernde Viktoria
Guten Morgen, S-Bahn
Guten Morgen, andere Bahn
Guten Morgen, weißer Kanal
Guten Morgen, Morgenröte
Guten Morgen, Berlin
17. 4. 2013 13:30
Blauer Himmel. Ich stehe seit Tagen in meiner von der Sonne aufgeheizten Wohnung, tue nichts und warte auf den Tod.
In seinen letzten Lebenswochen – dass es zu Ende geht, sagt ihm der Arzt am 15.7.2013 – helfen seine Freunde ihm beim Blog. Längst ist klar, das sein Tagebuch posthum gedruckt erscheinen soll. Es ist, in literarischer Hinsicht, eine weitere Arbeit des Stilisten Wolfgang Herrndorf, bewegend, erschütternd und komisch. Angehängt an die Tagebucheinträge sind Fragmente, die im Netz nicht zu lesen sind und ein gestrichenes Kapitel von „Tschick“. Am 26. August dieses Jahres tötet Herrndorf sich selbst. Sein letzter Eintrag im Blog gilt der am 15. August in Hamburg gestorbenen Musikerin Almut Klotz.
1.7.2013 15:21
Beim Schreiben fehlen mir die passenden Verben. Und wenn ich sie habe, fehlt mir Konjugation. Das kann ich nicht für das Lektorat aufsparen, weil ich gar nicht weiß, was ich eigentlich sagen will.
Das kann ich nicht noch mal lernen, ich hab nicht noch mal sechs Jahre.
2.8.2013 20: 7:16
Im See zwei Schwimmer, einer davon ich.
9.8.2013 18:56
Abschied von meinen Eltern. Ich kann nichts sagen. Ich sitze neben ihnen, ich kann nicht in ihre Gesichter sehen.
20.8.2013 14:00
Almut.
Wolfgang Herrndorf: „Arbeit und Struktur“. Rowohlt. 448 S., 19,95 Euro