Hamburger Nobelkarren sind derzeit das Ziel von Attacken. Jetzt gibt’s den Roman dazu. Er ist voller Wut – und Liebe zur Stadt.
In der Realität sind es in diesen Tagen SUV in Harvestehude und Nienstedten, die plötzlich mit platten Reifen in den besseren Quartieren herumstehen. In diesem Roman dagegen sind die weltanschaulich rigorosen Angreifer an der Hoheluftbrücke zugange. Und sie drehen nicht nur ein paar Ventile auf, fürs Klima. Sie „roasten“ geparkte Autos und fackeln damit den ganzen kapitalistischen Lebensstil ab. Auch das kennt man in Hamburg, das gleichzeitig eine Stadt der Reichen oder wenigstens Begüterten und der Autonomen ist.
Oft stehen sich, wenn linke Aktivisten bürgerliche Wohngegenden unsicher machen, auch unterschiedliche Generationen gegenüber. So ist es in „Alle ungezählten Sterne“, mit dem der Hamburger Meistererzähler Mirko Bonné nun den Versuch unternimmt, die Milieus wenigstens literarisch zu versöhnen.
Roman von Mirko Bonné über Hamburger Linke: „Alle ungezählten Sterne“
Seine Romanfigur Dr. Benno Romik ist der ehemalige Brückenkommissar der Freien und Hansestadt; und man weiß ja, dass es in diesem Hamburg wahnsinnig viele Brücken gibt. Wer viele Brücken geprüft hat, der kann vielleicht auch eine letzte Brücke bauen.
Und so nimmt der 70-jährige Mann in unruhigen Nachtstunden eine am Fuß verletzte junge Frau mit zu sich in die Wohnung, bevor die Polizei sie aufgreifen kann. Eine von den selbst ernannten „Zertrümmererfrauen“, die sich nach dem G20-Gipfel in Hamburg weiter radikalisiert haben und dem herrschenden System in Totalablehnung gegenüberstehen.
Jetzt haben sie unter dem Hochbahn-Viadukt in Harvestehude Autos angezündet. „Hollie Magenta“ nennt sich die knapp über 20-Jährige, und sie richtet sich in der Altbau-Gediegenheit Bennos mit dem Selbstverständnis derjenigen ein, die sowieso der Ansicht sind, den Besitzenden schulde man gar nichts.
Und was passiert mit Romik, als er Hollie in sein Leben lässt? Er wehrt sich nicht gegen ihren allumfassenden Zweifel an den Verhältnissen, gegen die aggressive Nachdenklichkeit dieser Frau, die seine Enkelin sein könnte. Gedanklich frei fühlt er sich ohnehin, und das bedeutet: Auto-Anzünderinnen haben vielleicht doch etwas mitzuteilen, das einen weiterbringen könnte.
Hamburger Roman beginnt nicht mit brennenden Autos
Dieses Weiter ist in Benno Romiks Fall absehbar: „Alle ungezählten Sterne“ setzt nicht mit brennenden Fahrzeugen ein, sondern mit einem Arztbesuch. Romik ist todgeweiht, er hat im besten Fall noch ein paar Monate zu leben, wird ihm in der Praxis eröffnet.
Für einen zu allen Schattierungen von Melancholie fähigen, für einen gerissen dezenten Pathetiker wie Mirko Bonné ist der Mann am Ende seiner Tage vermutlich eine Idealgestalt, um seine erzählerischen Stärken zur Geltung zu bringen.
Das geschieht hier, in diesem Roman, der außergewöhnlich ist in der Feinformulierung seiner Themen und gewaltig in der Spannweite der seelischen Bewegungen, von denen er Zeugnis ablegt. „Das Gute an jedem Ende: Alles ist Vergangenheit: Auf mich kommt nichts mehr zu, ich habe die Zukunft hinter mir“, lässt Bonné seinen Ich-Erzähler zunächst sagen.
Roman „Alle ungezählten Sterne“: Späte Romantik mit der ehemaligen Sekretärin
Er könnte kaum falscher liegen, zumindest was die späte Erziehung des Herzens angeht. Auf seine letzten Tage gibt es spröde romantische Akzente in der Beziehung zu seiner ehemaligen Sekretärin Cherin. Vor allem aber hat Romik, dessen Ex-Frau seit sechs Jahren tot und dessen einzige Tochter Vivien mit ihm nichts mehr zu tun haben will, in Hollie Magenta mit einem Mal eine Art Familienersatz.
In einer kühnen Konstruktion, zu dem die für diesen Autor nicht untypischen Wendungen gehören, und im episch und gleichmäßig pulsierenden Tonfall bindet Mirko Bonné die Vorgeschichte seines Helden in das dramatische Geschehen ein.
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Es passiert ja tatsächlich allerhand. Romik wird in den politischen Kampf Hollies gezogen und in ihre Identitätsverschleierungen. Jene betrifft besonders auch Hollies Peergroup: Romik weiß nicht, mit wem er es eigentlich zu tun hat, ist einer Hollies Bruder oder nicht?
Der Aktivismusstrang treibt die Handlung voran, die im letzten Romandrittel geradezu Thriller-Momente hat und in der mecklenburgischen Einöde ihr Finale. Da wird dann der Sprengstoff eine Rolle spielen, den Hollies linke Einsatztruppe für ihren großen Schlag gegen das System auf Finkenwerder gelagert hat. Der gesamte Hamburger Westen soll durch eine Explosion vom Strom abgeschnitten werden.
Fridays for Future? Allerhöchstens „Fake-Widerstand“, sagen die Linksaktivisten
Aber Hollie sagt sich los von den Aktionen ihrer hyperidealistischen Krawall-Clique. Romik hilft ihr, den Anschlag zu vereiteln. Und Hollie kommt ihm entgegen, wo doch auch er schon Strecke gemacht hat auf dem Weg in den Verständnisbereich, der die Überzeugungen anderer betrifft.
Aktueller könnte Bonnés Roman nicht sein, da er trotzdem in vielen Dialogen die gegenwärtige Sprachlosigkeit und Unversöhnlichkeit der Generationen vorführt. Die Klimakrise also? Für Hollie und die Ihren „Ausdruck der globalen Zerstörung aller Lebensgrundlagen durch die Generationen zuvor“. Und sonst so? Hollie: „Die Weltgeschichte ist ein fortwährender Exzess männlicher Gewalt gegen alles vermeintlich Schwächere.“
Fridays for Future? „Fake-Widerstand“, weil die Demonstranten „die bestehenden Verhältnisse konsolidieren“. Der Roman referiert authentisch Weltbild und Rhetorik der Umstürzler, die sich als notwendige Alarmglocke des Planeten sehen: „Whatever. Es liegt an euch. Wir sprengen zur Not auch den Fernsehturm. Hauptsache, Randale. Hauptsache, es kracht und trifft euch und ihr wacht auf.“
„Alle ungezählten Sterne“: Ein Roman, der auch eine deutlich komische Note hat
Benno Romik fühlt sich wie vor dem Tribunal. Aber es muss ein Zusammenfinden geben. Wie das allgemein Menschliche, wie die kleine Sorge um den Mitmenschen, die über große Erzählungen von der Welt hinausreicht, wie sie leider ist oder nach der Revolution sein soll, sich Bahn bricht, davon erzählt dieser immer wieder anrührende und genau auf dieses Angerührtsein so gekonnt (un-)sentimental zielende Roman.
Es sind nicht die schlechtesten Momente, in denen Bonné den ganzen tragisch in Szene gesetzten Plot von den letzten Dingen eine durch und durch komische Note gibt. Die jungen Leute reden so, wie sie reden, und Hollie und Co. schwören auf Anglizismen – und Spitznamen, die den eigentlichen fröhlich variieren. Benno Romik ist der „Old Bro“, ist der „Brückenpharao“, ist „Benno Goodman“, „Old Schlurf“, „Ramses I.“, „Dreihundert“ (dabei ist er doch erst 70) und „Sesoston“.
Mirko Bonné: Der legendäre Sprayer Oz bekommt eine Erwähnung
Letzteres das Schmerzmittel, das der Kranke gegen sein todbringendes Brennen im Magen nimmt. In der Roman-Realität hat ein Algorithmus Romiks Restlebenszeit ermittelt, was ihm postalisch von seiner Praxis übermittelt wurde – 17 Tage Zukunft. Diese verbringt Benno mit auch nostalgischen Blicken zurück.
Der Vater verließ die Familie, die Beziehung zur Mutter war schwierig, die zu der Stadt, in der geboren wurde und in der er immer noch lebt, immer intakt. Die Zeiten verschwimmen in diesem Buch, und dies hat seine eigene Poesie. Einmal trifft Romik auf einen Jungen, einen „Hamburger Butscher“ und kann nicht anders, als den immerwährenden Kreislauf zu sehen: „Er war mein Enkel und mein Sohn, ich seiner. Ich war sein Vater und er meiner.“
Sein letztes Lebenskapitel als Begleiter, vielleicht Retter einer illegalen Frau – auch als Sprayerin (der legendäre Oz bekommt hier eine namentliche Erwähnung) war Hollie schon auf der Flucht vor den „Copschweinen“ – ist so unwahrscheinlich wie nur irgendeines. Aber im Blick („Hamburg gehört mir, mein Vater hat es mir geschenkt“) auf den Ort seiner Herkunft äußert sich der Gefühlsüberschwang des Liebenden – Romik als typischer Repräsentant von geografischer Gefühligkeit.
Autor Mirko Bonné kam im Alter von zehn Jahren nach Hamburg
Auf eigenwillige Weise ist „Alle ungezählten Sterne“ ein Heimatroman. Ein Geschenk des 1965 in Tegernsee geborenen und im Alter von zehn Jahren nach Hamburg gekommenen Erzählers, Lyrikers und Übersetzers Mirko Bonné an alle Lokalpatrioten. Eine an seine Hauptfigur (Benno, das ist ein abgewandelter Bonné) delegierte Liebeserklärung an die Stadt, in die die Gegenwartskritik dank des linken Romanpersonals mit eingebaut ist.
Verbürgte Stadtgeschichte – die einstige Straßenbahn, die Zuschüttung des Mühlenberger Lochs – steht neben umgedichteten Realien wie der „Isadorastraße“ und dem „Invalidengarten“. Vor allem aber literarisiert der glorreiche Wortsetzer Bonné die Stadt auf eine Weise, dass man nicht anders kann, als mit Wärme auf dieses Hamburg zu schauen, auf dieses Hamburg und seinen Regen: „Es ist der alte Schleier aus Malochen und Monotonie, die Dunstglocke von Duvenstedt bis Stillhorn, von Bergedorf bis Rissen. Mittendrin liegt der Hafen, zu dem Hunderte Brücken führen. Aber durch den Nebel aus Verdienenmüssen und Überlebenwollen führt nur eine einzige Brücke ins Freie, und die ist der Hafen selbst“.
Das „schicke, noble, schaurige Blankenese“ am anderen Elbufer
Aber Hamburg steht auch für den Ausverkauf. „Und am anderen Elbufer das schicke, noble, schaurige Blankenese, verlassen von Kapitänen, verhökert von Maklern und Maklerinnen“, heißt es einmal. Hollies linke Brigade („Who the fuck kann leben in Blank ’n’ Easy?“) weiß ohnehin, wie zu verfahren ist: „Blankenese gehört zerstört, ihr Zicken!“
Zum Endspiel kommt es dann auf dem Land. Bonné, der um das Gewinnbringende von Plot-Twists weiß, lässt es krachen. Buchstäblich, weil das einstweilen nach einem Verrat Hollies auseinandergedriftete Duo beim sehr zufälligen (auch da ist der Erzähler Bonné großzügig – sich selbst gegenüber) Wiedersehen in einem dunklen „Märchenwald“ immer noch den Sprengstoff im Gepäck hat. Und im übertragenen Sinne, weil zum High Noon an einer alten russischen Panzerverladestation eine surreal anmutende jahrzehntealte Erinnerung an ein Vater-Tochter-Trauma kommt, dessen Ursprünge hier liegen.
Bonné lässt in seine Geschichte auch die Pandemie (das „Pandämoneum“) und den Ukraine-Krieg fließen. Benno Romik ist noch da, er nimmt das, was die Gegenwart ausmacht, als Lebender unter Lebenden wahr. Und doch ist das Ineinandersuppen von früher und heute, das sich traumartig offenbart, vor allem der Vergangenheit geschuldet, die an die Oberfläche drängt. Bonné legt in diesem Roman, der vielleicht sein bester ist, ein dichtes Netz von Motiven aus, die gar nicht mal subtil sein müssen, um Suggestivkraft zu entwickeln.
„Alle ungezählten Sterne“ ist ein großer Gesellschaftsroman
Als man sich gerade noch fragt, ob die Ersatztochter Hollie, die er irgendwann nur noch mit ihrem Geburtsnamen Hanna anspricht, einfach nur eine Lücke im Leben des Mannes füllen musste, treten andere Deutungen zutage. Am Ende könnte es tatsächlich so sein, dass die Alten von den Jungen neuen Lebenssaft bekommen. Dass sich die Jungen in ihrem Kampf verbrauchen, damit auch die Alten noch was vom Leben haben.
„Alle ungezählten Sterne“ ist der abgründige Gesellschaftsroman eines großen Erzählers, der die Tiefen der menschlichen Existenz auszuloten vermag wie wenig andere.
Mirko Bonné stellt seinen Roman am 5.10. im Hamburger Literaturhaus vor.