Hamburg. Der Dirigent Ingo Metzmacher über Charakter, Haltung und andere wichtige Botschaften.

Von Zeit zu Zeit ist Ingo Metzmacher dann doch zurück in der Stadt, obwohl – oder vielleicht auch: weil – seine Amtszeit als Generalmusikdirektor an der Staatsoper 2005 endete, unfriedlich. Metzmacher war damals nie ein ganz und gar einfacher Gesprächspartner, aber immer ein lohnender. Das deswegen naheliegende Gesprächs-Leitmotiv: Charakter.

Hamburger Abendblatt: „Willst du den Charakter eines Menschen erkennen, dann gib ihm Macht.“ Abraham Lincoln. Was sagt das für Sie über ihren Beruf aus? Lincoln war eine historisch wichtige Person, wurde am Ende dafür aber auch erschossen.

Ingo Metzmacher: Oh je, das passiert mir hoffentlich nicht … Wie geht man mit Macht um? Das ist schon eine wichtige Frage. Ich komme vom Ensemble Modern, da habe ich Klavier gespielt, da habe ich auch ein bisschen dirigieren gelernt. Es war immer ein kollegiales Verhältnis und das hat mir manchmal später Schwierigkeiten eingebracht, wenn ich versucht habe, so auch mit größeren Orchestern umzugehen.

Was macht es mit dem Charakter, wenn Sie wissen: Mein Job besteht daraus, etwa 100 Leuten klar sagen zu sollen, was Sache ist – und was nicht?

Ingo Metzmacher: „Ich finde wahnsinnig wichtig, dass jemand eine Haltung hat“

Ich versuche, das schon zu trennen. Dass ich nicht immer den Dirigenten mache, ob ich nun vorm Orchester stehe oder auch nicht. Aber es geht ja auch nicht nur darum, zu sagen, wo es langgeht. Es geht ja auch darum, für bestimmte Dinge zu begeistern. Es geht ums Überzeugenwollen. Man hat vor allem die Macht, bestimmte Stücke aufs Programm zu setzen. Das finde ich wichtig. Das war einer der Triebfedern, diesen Beruf anzustreben.

Während Ihrer Zeit hier in Hamburg waren Sie, im positiven Sinne, durchaus als dickköpfig bekannt.

Die Tendenz stimmt, glaube ich, aber ich würde schon sagen, dass ich gelassener geworden bin. Ich finde es wichtig, dass man einen Standpunkt hat. Es gibt Menschen, die vor einer Mauer sofort ausweichen und außen herumfahren. Zu denen gehöre ich natürlich nicht.

„Hast du keine Feinde, hast du keinen Charakter.“ Sie können raten, ob dieses Zitat von Paul Newman oder Herbert von Karajan war.

Paul Newman.

Ingo Metzmacher: „Haltung verlange ich auch von mir selbst“

Stimmt. Ist das denn so? Konditioniert man sich manche Gegenüber so zu Recht, dass jemand ab einem gewissen Punkt sagt: Mit Ingo Metzmacher nur noch über meine Leiche?

Ich habe die Erfahrung gemacht, dass es nicht immer bei allen hilft, wenn man eine klare Haltung hat. Heute weichen die meisten immer etwas aus. Das führt nicht so richtig weiter. Es ist schon wichtig für ein Orchester, dass man wirklich sehr klar ist. Könnte etwas dieses oder jenes bedeuten, fühlt sich ein Orchester auch verunsichert.

Haben Sie Ihre berufliche, professionelle Menschenkenntnis beim Umgang mit Solistinnen und Solisten in den Rest Ihres Lebens mitgenommen? Funktioniert diese Sensorik auch im Alltag?

Ich bin ja auch noch Intendant der Kunstfestspiele in Hannover, dabei geht es nicht nur um die Frage, dass ich Dirigent bin, sondern auch um Mitarbeitende. Wie geht man mit denen um, wen wählt man überhaupt aus? Ich glaube nicht, dass das eine besonders große Stärke von mir ist und habe jemanden, der sehr gut ist und mir hilft.

Wann, wo und warum haben Sie sich künstlerisch am stärksten verbogen?

Ich finde wahnsinnig wichtig, dass jemand eine Haltung hat. Das verlange ich auch von mir selbst. Ob ich mich jemals verbogen habe? Sicher, immer wieder muss man sich verbiegen, aber es fällt mir jedes Mal sehr schwer. Es gibt diesen Satz von Schönberg über Ives, der gesagt hat: Da gibt es diesen Komponisten in Amerika, der ist sich immer treu geblieben. Das ist eine wichtige Forderung, die man an sich selber stellen kann.

Ingo Metzmacher: „Unzufriedenheit als Triebfeder“

Sind Künstler einfache Charaktere oder tun sie nur so?

Jemand, der sich auf die Bühne stellt, muss schon eine besondere Disposition haben. Meistens steht irgendein Grund, eine Triebkraft dahinter.

Jetzt haben Sie mir den Ball auf den Elfmeterpunkt gelegt: Was war Ihre Triebfeder? Geliebt werden wollen, bewundert werden wollen?

Ein gewisser Anteil von Narzissmus ist natürlich da drin. Aber die eigentliche Triebfeder war immer eine gewisse Unzufriedenheit. Das hat sicher auch viel mit meinem Vater zu tun, der ein großer Musiker war und den ich erlebt habe, wie er gespielt hat. Natürlich wollte ich etwas anderes machen als er. Das musste ich, sonst hätte ich keinen eigenen Weg gefunden. Und dann hatte ich einen sehr guten, verrückten Klavierlehrer in Hannover, der mir sagte: Du musst dirigieren. Dann habe ich damit angefangen. Und von Anfang an immer Sachen gemacht, die die anderen nicht gemacht haben.

Machtstrukturen sind schon auch verführerisch, oder?

Der größte Vorwurf, den ich mir in meinem Leben mache: Wenn man Macht gewinnt, ist man sehr gefährdet, Hybris zu entwickeln. Mein Vater hat gesagt, dass es eine Gnade ist, wenn man musikalisch ist, sich sein Leben lang mit dieser wunderbaren Sache beschäftigen kann und dafür auch noch bezahlt wird. Das andere ist: dass man der Musik mit Demut begegnet. Man soll dem Werk dienen. Das klingt heute ein bisschen altmodisch, aber ich finde es immer noch für mich gültig.

Ingo Metzmacher: „Musik mit Botschaft habe ich immer gemocht“

Gibt es etwas in Ihrer Karriere, auf das Sie regelrecht stolz sind?

Ich schaue schon oft auf die Hamburger Zeit. Das war mit Sicherheit die prägendste und erfüllteste Zeit für mich. Neulich habe ich meinen damaligen Chefdramaturgen Christoph Becher getroffen und wir haben darüber gesprochen, wie viel Verrücktes wir gemacht haben. Darauf schaue ich gerne zurück.

Ihnen kam nie der Gedanke, dass Sie Hamburg womöglich zu früh verlassen haben, dass Sie zu früh gesagt haben: Leute, dann eben nicht?

Ich will jetzt nicht aus dem Nähkästchen plaudern, aber die Situation war damals schon so, dass klar war, dass ich gehen musste. Es ist aber auch schade. Wir hatten ja noch alle möglichen tollen Pläne.

Themenwechsel: Bei welcher Musik – losgelöst von Mahlers Achter – glauben Sie, dass es einen Gott gibt?

Sie werden sich wundern. Bei einer Weihnachtsandacht in Hannover wurde ich aufgefordert, eine Rede über das Thema „Fürchtet euch nicht!“ zu halten. Ein Musiker, der nicht irgendwie gläubig ist? Das kann ich gar nicht verstehen. Das ist die transzendente Kunst, die Erlebnisse vermitteln kann, die etwas Überirdisches haben. Musik mit Botschaft habe ich immer gemocht.

Ingo Metzmacher: „Das höchste Glück“

Wie frustrierend ist es, nach einer Drei-plus-Veranstaltung von der Bühne zu gehen? Dafür sind Sie nicht Dirigent geworden, Sie wollen ja tunlichst immer die Eins-plus-Veranstaltung.

Das Vordringen in den Kern der Musik und dass sie von sich aus zu den Menschen spricht, das ist nichts, was Sie erzwingen können. Wenn man schon daran denkt, kommt es schon nicht, verstehen Sie? Wenn es denn Gott gibt – das Beste, was er machen kann, ist, sich zu verbergen und nur ganz, ganz selten mal ein Zeichen zu senden. Er will nichts Selbstverständliches sein.

Was haben Sie vom Dirigieren fürs Leben gelernt?

Da gibt es eine Wechselwirkung. Mein Vater hatte nach dem Motto „Leben und leben lassen“ gelebt. Das ist für mich wahnsinnig wichtig. Ich bin nicht jemand, der alles bestimmen will, außer, es wird von dem Stück wirklich verlangt. Ich mag Stücke, die ein offenes System haben. Mozart ist für mich ein offenes System. Wenn Dirigenten das bis in die letzte Note festlegen und alles klingt wahnsinnig poliert, dann stirbt die Musik für mich. Das ist eine Musik, die frei sein will. Spielen lassen und sich nicht ständig einmischen, das ist für mich das höchste Glück, wenn ich dirigiere und merke: Das funktioniert.

Nächstes Metzmacher-Konzert: 17./18.12. mit dem Philharmonischen Staatsorchester: Ives „Central Park in the Dark“ und Mahler 7. Sinfonie, Elbphilharmonie, Gr. Saal