Hamburg. Das glänzende Stück „The Wanderers“ hätte zum Auftakt des Bühnenfestivals am Altonaer Theater viel mehr Publikum verdient gehabt.

Er ist der dienstälteste Intendant der Stadt. Er sollte es also wissen: Wenn das Theater „ein Seismograf für die aktuellen Strömungen der Gesellschaft“ ist, wie Axel Schneider am Dienstag in seiner Begrüßungsrede zu den elften Privattheatertagen (PTT) in Hamburg betonte, wenn das Theater sogar „in die Zukunft blicken“ kann – was sagt es dann über den Zustand der Stadtgesellschaft und über die Zukunft des Theaters aus, wenn ein so vielseitiges, so vielversprechendes Festival vor halb leerem Haus eröffnet?

Zunächst einmal bedeutet es vor allem dies: dass sehr viele Menschen eine sehr besondere, sehr berührende Inszenierung verpasst haben. Oder womöglich, das jedenfalls wäre die optimistische Variante: dass eine ganze Menge Zuschauerinnen und Zuschauer diesen Abend schon kennen ...? Denn die Privattheatertage, bei denen noch bis zum 9. Juli herausragende Produktionen aus neun verschiedenen Bundesländern zu Gast sind, starteten in diesem Jahr am Altonaer Theater mit einer Arbeit, die nur wenige Kilometer entfernt ihre Heimatbühne hat – „The Wanderers“ aus dem Ernst Deutsch Theater.

Privattheatertage: Die Produktion aus dem Ernst Deutsch Theater ist die einzige Hamburger Arbeit

Von der Festivaljury wurde die deutschsprachige Erstaufführung des New Yorker Dramas von Anna Ziegler in der Regie von Elias Perrig als einzige Hamburger Produktion des Festivals und als eine von vier Wettbewerbsbeiträgen der Sparte „Zeitgenössisches Drama“ ausgewählt. „The Wanderers“ konkurriert nun mit Inszenierungen aus Münster („Die zwei Päpste“), Melchingen („Die ganze Hand“) und Saarbrücken („Boy in a white room“) um einen der renommierten Monica-Bleibtreu-Preise. Die werden außerdem in den Kategorien „(Moderner) Klassiker“ und „Komödie“ vergeben.

Begehrt sind die Bleibtreu-Preise (und der PTT-Publikumspreis) nicht allein an der Elbe – was sich offenbar noch immer nicht ausreichend herumgesprochen hat. Bei der Beantragung von Bundesmitteln, so Schneider, müsse er regelmäßig von vorn erklären, dass es sich bei den Privattheatertagen nicht in erster Linie um ein Hamburger Festival handelt, sondern um ein überregionales.

Privattheatertage: die Chance sich zu zeigen, die Anerkennung der Qualität, ein Marketingwerkzeug

Das allerdings in Hamburg ersonnen wurde und seither hier stattfindet. Was das Theatertreffen der Berliner Festspiele für die großen, berühmten und meist eben auch: die staatlichen Bühnen der Theaterlandschaft ist, das bedeutet eine Einladung zu den PTT für die privaten Häuser bundesweit. Eine Chance, sich zu zeigen, eine Anerkennung der eigenen Qualität, ein Marketingwerkzeug für das heimische Publikum. In Hamburg dabei sind diesmal das Theater Überzwerg aus dem Saarland, Bühnen aus Nürnberg, Dresden, Berlin und Ansbach und die Bremer Shakespeare Company, ein regelmäßiger PTT-Gast. Die Jury aber war auch in Herxheim bei Landau, in Fürstenfeldbruck, Rottweil, Regensburg und Visselhövede. Unter anderem.

Axel Schneider, Intendant vom Altonaer und Harburger Theater und den Kammerspielen sowie Organisator der Privattheatertage
Axel Schneider, Intendant vom Altonaer und Harburger Theater und den Kammerspielen sowie Organisator der Privattheatertage © Roland Magunia

Denn „mutiges, engagiertes, risikofreudiges Theater“, wie Axel Schneider es hervorhob, findet sich auch abseits der ganz grellen Scheinwerfer (und abseits prall gefüllter Subventionstöpfe). Das kann in der sogenannten Provinz sein, aber eben auch an einer etablierten Privatbühne wie der Mundsburger, die von den Karteneinnahmen und der Publikumsgunst abhängig ist, aber dennoch künstlerische Wagnisse eingeht und für eine klare Haltung steht.

„The Wanderers“: Die Eröffnungsproduktion lebt davon, dass das Publikum mit den Figuren mitfühlt

„The Wanderers“ aus dem Ernst Deutsch Theater ist ein Konversationsstück, das auf einer ganz weißen und doch klug in mehrere Rahmen geschichteten Bühne allein von den Charakteren und ihren Dialogen lebt. Und das schon deshalb herausragend gespielt sein muss, weil es wenig äußerlichen Schauwert gibt, wenig lineare Handlung. Worauf es hier ankommt: mit den Figuren mitzufühlen.

Anna Ziegler erzählt die Geschichte zweier Beziehungen, zweier Lebensentwürfe, die auf den ersten Blick kaum unterschiedlicher sein könnten: Da ist das ultraorthodox-chassidische Paar, Esther und Schmuli, deren Ehe arrangiert ist. Die Frau trägt Perücke, darf nicht arbeiten und muss sich rechtfertigen, wenn sie bei Hitze und hochschwanger ohne Strumpfhose das Haus verlässt. Und da sind Sophie und Abe, das smarte New Yorker Kultur-Couple, das sich zumindest intellektuell auf Augenhöhe begegnet. Ihre Herkunft verbindet das Quartett miteinander – Esther und Schmuli sind Abes Eltern.

„The Wanderers“ zeigt eindrücklich, wie sehr die Wurzeln ein Leben auch dann noch prägen, wenn man glaubt, sie längst gekappt zu haben. Familiäre Traumata, gesellschaftliche und religiöse Zwänge, verkorkste Beziehungen, Sprachlosigkeit und Verdrängung – die Erkenntnis ist hier auf jeder Ebene eine erschreckende: „Ich bin vor allem das Produkt meiner Eltern.“

Das Altonaer Festivalpublikum ist von der anrührenden Darstellung des auf allen Positionen glänzend besetzten Ensembles schon zur Pause tief bewegt; es rührt sich, als der Saal dunkel wird, sekundenlang nicht. Umso kräftiger fällt später der Schlussapplaus aus. Es ist wirklich ein Jammer, dass diese dichte, feine Inszenierung – deren Titel womöglich zu viel Erklärung verlangt – auch am Ernst Deutsch Theater nicht mehr zu sehen sein soll. Vielleicht aber regt der Abend dazu an, in den kommenden Tagen auf das Urteil der PTT-Jurys zu vertrauen: Die Privattheatertage, die noch auf zahlreichen weiteren lokalen Bühnen zu Gast sind, haben ganz sicher mehr Publikum verdient.

Privattheatertage bis 9.7., Programm unter www.privattheatertage.de