Hamburg. Zank um die Traditionsbühne müsste nicht sein, beweist ein besonderes Ohnsorg-Projekt. Hier spielen und spelen 18- bis 77-Jährige.
Drei mal drei schwarze, weiße und rote Uhren hängen tickend an der Wand. Die eine zeigt zwei, die nächste sechs, eine hängt gar auf halb neun. Sei’s drum: Auch wenn die eine Uhr vorgeht und die nächste nach, so ticken sie doch im selben Takt.
Und das ist nicht nur das Bühnenbild, sondern auch das versinnbildlichte Prinzip des Ohnsorg-Generationenclubs, der in diesen Tagen sämtliche Energiereserven für seine Intensivproben mobilisiert. Endspurt ist angesagt, am 30. Juni premiert „Allens hett sien Tiet – Von Arbeit und Sehnsucht“.
Unter der Leitung und Regie von Theaterpädagogin Julia Bardosch haben neun Laiendarstellerinnen ein autobiografisches Stück erarbeitet, das sich mutig hineinmeditiert in persönliche Erzählungen von Arbeit und Leistungsdruck, von Verantwortung und Ängsten, von verstrichener Zeit und verpassten Träumen. Und natürlich haben die Teilnehmerinnen auch eine klare Meinung zu den Ohnsorg-Themen der vergangenen Wochen. Zu wenig Platt an der niederdeutschen Bühne? Zu viel Zeitgenössisches? Genau umgekehrt?Unweigerlich kommt irgendwann das Gespräch auch darauf.
Theater Hamburg: Ohnsorg-Generationenclub mit Darstellerinnen von 18 bis 77
Im Zentrum aber stehen hier zunächst die Frauen: Das Partizipationsprojekt vereint Darstellerinnen zwischen 18 und 77 Jahren, die teils – abgesehen vom Spiel für das Ohnsorg – keine Theatererfahrung haben, sich aber in den vergangenen Monaten gemeinsam zu einem echten Schauspielerinnenensemble entwickelten.
Dass keine Männer unter ihnen sind, hat nicht per se etwas mit feministischen Bestrebungen zu tun. „Das hängt einfach damit zusammen, dass Frauen viel mutiger sind und Männer eigentlich fast nie zum Casting kommen“, sagt Bardosch. Außerdem hätten es männliche Lebensrealitäten in den vergangenen 500 Jahren zur Genüge auf die Bühnen der Welt geschafft.
Dreh- und Angelpunkt des seit 2019 bestehenden Projekts Generationenclub, das jährlich eine Produktion hervorbringt, sei die Teilhabe am künstlerischen Prozess. Abgesehen von den Darstellerinnen sind daher ausschließlich Profis am Werk, etwa Musiker, Techniker, die Inspizientin – oder eben Regisseurin Julia Bardosch und Dramaturgin Anke Kell. Den berührenden, weil schonungslos ehrlichen Text entwickelte sie aus Interviews und Improvisationen der neun Spielerinnen.
Baden-Württembergerin stürzt sich Hals över Kopp ins Plattdeutsche
Ebenfalls essenziell – schließlich handelt es sich um den Generationenclub des Ohnsorg-Theaters – ist in „Allens hett sien Tiet“ selbstredend das Plattdeutsche. Zwar ist die Inszenierung zweisprachig auf Hoch- und Plattdeutsch angelegt, wie es bei Stücken der kleineren Studio-Bühne im Ohnsorg üblich ist. Trotzdem bedeutet es eine ziemliche Herausforderung für einige der Darstellerinnen. Denn Plattdeutschkenntnisse sind weder selbstverständlich, noch waren sie Teilnahmevoraussetzung.
Da ist etwa Marietta Graf, mit 18 Jahren derzeit die jüngste Darstellerin im Generationenclub. Die Baden-Württembergerin absolviert gerade ein Freiwilliges Soziales Jahr (FSJ) in der Kostümabteilung des Deutschen Schauspielhauses. „Ich habe schon in der Schule Theater gespielt und bin hier in Hamburg schnell auf den Generationenclub gestoßen“, erzählt sie. Obwohl eigentlich alemannisch sozialisiert, stürzte sich Graf am Ohnsorg Hals över Kopp ins Platt. Keine Spur von Berührungsängsten.
Im Gegenteil machte Graf das Erlernen des Plattdeutschen zu ihrer ultimativen Hamburg-Erfahrung: „Platt ist für mich ein Teil von Hamburg, und ich bin ja nur dieses eine Jahr hier. Also dachte ich mir: Okay, dann mache ich doch jetzt mal etwas, was ich noch gar nicht kenne und was einfach zu Hamburg gehört. Das muss ich doch mitnehmen.“ Dass ihr die anderen Darstellerinnen, teils versierte Plattprofis, die korrekte Aussprache vermitteln können, begreift sie als einmaliges Privileg.
„Man kann mit dem Plattdeutschen mehr Humor rüberbringen“
Das Voneinanderlernen ist eben Teil des Generationenclubs – nicht nur, wenn es ums Platt-Snacken geht, meint die 18-Jährige, die Hamburg nach ihrem FSJ für ein Medizinstudium wieder verlassen will: „Antje hat mir zum Beispiel gezeigt, dass es doch nie zu spät ist, ganz neue Sachen kennenzulernen.“
Antje – das ist Antje Krippgans-Gingter, ihre Schauspielkollegin. Die Hamburgerin markiert mit 77 Jahren das andere äußerste Ende des Generationenclub-Altersspektrums. Für Krippgans-Gingter fühlt sich Platt ganz natürlich an: „Mein Vater konnte sehr gut Plattdeutsch, hatte auch plattdeutsche Bücher. Bei unseren Verwandten auf dem Land wurde auch Plattdeutsch gesprochen. Ich habe es also früh mitbekommen, aber immer mehr gehört als gesprochen.“
Ob sie nun auf Platt spielt oder auf Hochdeutsch, mache für Krippgans-Gingter nur wenig Unterschied. Allerdings: „Man kann mit dem Plattdeutschen unter Umständen etwas mehr Humor rüberbringen als mit dem Hochdeutschen – es ist einfach volkstümlicher“, so ihr Empfinden.
Stirbt das Ohnsorg-Theater ohne Hochdeutsch aus?
Ausschließlich auf Platt zu spielen hält sie wiederum nicht für zielführend, gerade was den Generationenclub angeht. Erst der Mix aus Hoch- und Niederdeutsch ermögliche es doch jungen oder zugezogenen Menschen wie Marietta Graf, sich überhaupt in den Dialekt zu verlieben und ihn lebendig zu halten, sagt Krippgans-Gingter: „Man kann doch nicht sagen: ,Ist mir egal, dann sollen nur alte Leute ins Ohnsorg kommen.’ Dann stirbt das Theater aus.“
Damit gibt sie das wohl am häufigsten genannte Argument für den Kurs des derzeitigen Ohnsorg-Intendanten Michael Lang wieder. Er will, dass die Bühne am Heidi-Kabel-Platz ein offener Ort für alle ist. In der kommenden Spielzeit haben er und sein Oberspielleiter Murat Yeginer sogar die Stücktitel ins Hochdeutsche gesetzt. Die Inszenierungen haben hochdeutsche Anteile, damit auch ein des Plattdeutschen nicht mächtiges Publikum der Handlung mühelos folgen kann.
Ohnsorg-Theater: Zwist um Verhältnis von Hoch- und Plattdeutsch
Im Editorial zum Programmheft der Spielzeit 2023/24 wirbt Lang dafür, künstlerisch, ästhetisch und sprachlich Brücken zu schlagen „zu allen, die bisher wenig oder gar nicht mit dem Ohnsorg-Theater in Berührung kamen“. Mit „zeitgemäßen Geschichten und zahlreichen Vermittlungsangeboten vermeintliche Hemmschwellen“ abzubauen ist sein erklärtes Anliegen.
Ende April allerdings entzündete sich eine Debatte um ebenjene Auffassung – auch theaterintern. Die langjährige Ohnsorg-Schauspielerin Sandra Keck hatte überraschend für den Vorsitz im Trägerverein Niederdeutsche Bühne Hamburg e.V. kandidiert, wurde gewählt und damit zugleich zur Aufsichtsratvorsitzenden. Keck gilt als Kritikerin des aktuellen Kurses von Michael Lang am Heidi-Kabel-Platz. „Es gilt, manches zu hinterfragen“, hatte sie kurz nach ihrer Wahl gegenüber dem Abendblatt erklärt.
Auf Kecks Ernennung folgte eine Welle der niedergelegten Ämter: Oberspielleiter Murat Yeginer will zum Ende der kommenden Spielzeit zurücktreten. Christa Goetsch, ehemalige Zweite Bürgermeisterin Hamburgs, und Maike Brunk verließen ihre Posten im Aufsichtsrat. Intendant Michael Lang ist seit der Auseinandersetzung krankgeschrieben.
- Warum Bestsellerautorin Kirsten Boie die Schlei so liebt
- Party mit Rocko Schamoni am Wochenende auf der Fleetinsel
- Einaudi- „Ich könnte mit jedem Zuschauer zu Abend essen“
Theater Hamburg: Ohnsorg is platt – und noch so viel mehr
Vom Zank um das Ohnsorg ist im Generationenclub kaum die Rede. Die neun Darstellerinnen sind einfach glücklich, für das Haus auftreten zu dürfen – und dazu gehört unweigerlich das Plattdeutsche, aber eben auch so viel mehr. „Das sind ganz, ganz offene Menschen“, sagt Regisseurin Julia Bardosch, „und die hängen sich nicht daran auf, wie viel Plattdeutsch irgendwo vorkommt.“
Die Mischform aus hoch- und niederdeutschen Sprachanteilen – auf der kleineren Studiobühne des Ohnsorgs übrigens schon lange gang und gäbe – sei kein Ergebnis von Prinzipien und Agenden. Es gehe schlichtweg darum, Menschen ,von draußen’ die Möglichkeit zu geben, Platt zu lernen, Platt zu pflegen und es gemeinsam zu entdecken, sagt Bardosch. „Die Motivationen, hierherzukommen, sind ganz unterschiedliche. Aber die Liebe zum Platt, die entdecken eigentlich alle.“
Ohnsorg-Generationenclub: „Allens hett sien Tiet – Von Arbeit und Sehnsucht“ im Ohnsorg-Studio, Premiere am Freitag, 30. Juni, weitere Aufführungen am 1. und 2. Juli jeweils um 19 Uhr, Tickets ab 8,40 Euro an der Kasse und auf www.ohnsorg.de