Scheeßel. „Keiner hat mehr Bock auf Kiffen, Saufen, Feiern“ – aber auf Musik und Tanzen: 78.000 Fans machen das Hurricane Festival zum Erfolg.
„Wasserwerfer, Tränengas“, singt Sebastian Madsen am Sonnabend in „Sirenen“ beim Hurricane Festival in Scheeßel – und der Himmel öffnet seine Schleusen. Im 45-Grad-Winkel jagt der Wind unfassbare Wassermassen über den Eichenring.
Madsens Fans lassen sich nicht beirren, sie bilden wilde „Circle Pit“-Prügeltanzkreise (einer extra für Frauen), genießen die kühle Dusche und singen „Nachtbaden“, „Die Perfektion“ und „Lass die Musik an“ mit. Und mit dem letzten Ton vom letzten Song hört der Regen nach einer Stunde wieder auf.
Hurricane Festival: Dieses Jahr ist es heiß auf dem Eichenring. Und trotzdem grau
Zumindest 60 Minuten lang wurde das Festival seinem Ruf, dem Namen „Hurricane“ alle Ehre zu machen, gerecht. 2015 ergab eine Studie über das durchschnittliche Wetter auf Festivals der vergangenen zehn Jahre, dass das Hurricane das grauste Open Air mit den wenigsten Sonnenstunden war. Dieses Jahr präsentierte wetter.com eine ähnliche Untersuchung der zehn größten Festivals. Das Hurricane war im Durchschnitt das kälteste und (nach dem Dockville in Hamburg) das nasseste Festival. Wer es sommerlicher mag, sollte im Juli zum Deichbrand in Cuxhaven.
Dieses Jahr ist es aber heiß auf dem Eichenring. Und trotzdem grau. Staubgrau, staubbraun. Nur in den Stunden nach den abgesoffenen Auftritten von Madsen und zeitgleich auch Kaffkiez und Lumineers legt sich die über dem Gelände wogende Sandwolke eine Zeit lang. Aber das Hufgetrappel von 78.000 Fans zwischen den Bühnen, auf den Wegen zu den Shows der drei großen „M“ am Sonnabend (Madsen, Marteria, Muse) wirbelt alles schnell wieder auf.
„Keiner hat mehr Bock auf Kiffen, Saufen, Feiern“, rappt der Rostocker Marteria im Sonnenuntergang auf der Hauptbühne, aber von Feiermüdigkeit oder noch spürbaren Post-Corona-Effekten ist bis auf die gestiegenen Preise an den Essensständen (eigentlich kostet alles 10 Euro, vom Burger bis zum Handbrot) nichts zu spüren. Die Polizei zog bei den Anfahrtkontrollen 40 zumeist männliche Fahrer wegen Verstößen gegen das Betäubungsmittelgesetz aus dem Verkehr.
Acht Körperverletzungen, keine Sexualdelikte oder Einsätze wegen K.-o.-Tropfen
Ansonsten haben die Behörden während des Festivals wenig zu vermelden: Acht Körperverletzungen, keine Sexualdelikte oder Einsätze wegen K.-o.-Tropfen (der Rammstein-Skandal hat weitreichende Effekte), ein paar kletterwütige Zaungäste ohne Tickets und nicht angemeldete Drohnenflüge, die den festivaleigenen Drohnen (für Videos und Menschenmassen-Kontrolle) in die Quere kamen.
So kann sich die Menge am späten Sonnabend nahezu problemlos teilen: Die jungen Fans (der Festivalschnitt liegt bei 23 Jahren, die Hälfte der Besuchenden sind Frauen) gehen zur „Mountain Stage“ (von älteren Gästen auch „Småland“ genannt, wie das Kinderparadies bei IKEA), zur dritten Bühne zu Hip-Hop-Star Trettmann und zur erst 19 Jahre jungen, durchstartenden Deutschrapperin Badmómzjay. Die älteren Semester hingegen bleiben an der Hauptbühne für die britischen Neo-Prog-Rocker Muse.
Casper ist der Rausschmeißer am sehr frühen Sonntag – kurz nach Mitternacht
Letztere liefern trotz Hits Marke „Knights Of Cydonia“ und „Hysteria“ eine zwar musikalisch perfekte Show mit aufwendigen Bühnenbildern ab, bleiben aber distanziert und unterkühlt, vor allem im Vergleich mit den Headlinern vom Freitag, Billy Talent, Kraftklub und Peter Fox. Die erinnerten sich mit emotionalen Ansagen an ihre ersten Festivalauftritte vor vielen Jahren in Scheeßel und feuerten die Meute immer wieder an, bis diese schwitzend und erschöpft auch den letzten sandigen Tropfen aus den Bierbechern leckte. Muse ist im Vergleich eine Kunstausstellung – mit tollem Sound.
Casper, der Rausschmeißer am sehr frühen Sonntag nach Mitternacht, holt hingegen noch einmal alles raus und alle ab. „Alles war schön, und nichts tat weh“, „Ascheregen“ und „XOXO“ dröhnen durch die Nacht, der Song „Emma“ feiert Live-Premiere und beim finalen „Hinterland“ hört man das Feuerwerk weit über die Heide.
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Hurricane Festival: Nina Chuba beeindruckt – hier ist jemand auf dem Weg nach oben
Aber schon Stunden später, am eigentlich undankbaren frühen Nachmittagsslot, wird das Hurricane Festival Zeuge einer Wachablösung: Die Berliner Sängerin und Rapperin Nina Chuba verdichtet ihren Lauf dieses Jahr mit Nummer-eins-Album und Omnipräsenz in den sozialen Netzwerken in einen mörderischen Bass, der das Bild der Bühnenkameras auf den Videoleinwänden der zweiten Hauptbühne vibrieren lässt. „Mangos mit Chilli“ und „Solo“ eröffnen einen Triumphzug eines neuen Superstars, der eine endlose Masse Mensch aus den Zelten, Bullis und von den anderen Bühnen anzieht.
Beeindruckend. Hier ist jemand auf dem Weg nach oben wie der gasgefüllte Einhorn-Luftballon, den ein Fan in den vorderen Reihen gen Himmel entschweben lässt. Und sogar bei ihr entsteht ein – wenn auch kleiner – Circle Pit.
Es ist nicht nur bei Nina Chuba schön zu sehen, dass immer mehr Künstlerinnen dabei sind, sich auf Deutschlands Festivalplakaten einen Platz zu erkämpfen, wo noch immer männlich dominierte Bandnamen überwiegen. Der Name von Nina Chuba steht vielleicht beim nächsten Scheeßel-Besuch oben neben Queens Of The Stone Age, Placebo und Die Ärzte, die am Sonntagabend das Hurricane Festival 2023 abschließen werden. Es war in vielerlei Hinsicht: heiß.