Hamburg. Nach 41 Jahren Dienst an der Musik: Konzertmeister Roland Greutter verlässt das NDR Elbphilharmonie Orchester.

Die allerersten Geigentöne im noch nicht öffentlich enthüllten Großen Saal der Elbphilharmonie, die kamen damals aus seiner Geige. Dass Roland Greutter nach 41 Dienstjahren für die Musik als Konzertmeister des NDR-Orchesters auf diese Noten besonders stolz ist, sagt schon so einiges. Greutter ist inzwischen, mit Alan Gilbert, bei seinem siebenten Chefdirigenten angekommen, sein erster, als er 1982 begann, war Günter Wand. Er war 25, Wand war 70.

In wenigen Tagen hat es ein Ende mit seinem in Fleisch und Herzblut übergegangenen Aggregatszustand, denn Greutter verlässt den Stuhl ganz vorn zentral, direkt neben dem Dirigentenpult. Ruhestand ist ein sehr relativer Begriff für das, was kommt, denn natürlich will er weiter spielen, weiter üben, weiter lernen, weiterkommen. Eben nur anderes, und dann auch mit anderen.

Also stellen wir uns mal ganz dumm und fragen einige Fragen: Was ist eigentlich ein Konzertmeister, der nicht nur den Ersten Geigen vorsitzt, was soll er – oder sie – tun, was muss er lassen, wie viel von seiner Arbeit ist Musik, ist er eine Mischung aus Co-Trainer, Blitzableiter für Maestro-Launen, erstes Bindeglied, Beichtvater und Traumatherapeut? Und konkret besser als die anderen? „Diese Zeiten sind vorbei, man ist Primus inter pares“, entgegnet Greutter, dem man nach wie vor die oberösterreichische Herkunft leicht anhört.

Elbphilharmonie: NDR-Konzertmeister geht nach 40 Jahren

Eine weitere von vielen möglichen Arbeitsplatzbeschreibungen kommt mit 15 Wörtern aus: „Man muss halt so gut spielen wie die großen Solisten, das ist dann die Autorität.“ Und was ist auf dem Posten mit dem Soli-Neid? Gar kein Ego-Problem für Greutter, in den über 40 Jahren hat er mindestens genauso viele Violinkonzerte als Solist vor und mit „seinem“ Orchester gespielt. Ist er, dort, wo er normalerweise sitzt und spielt, also eher oberster Dienstleister für den jeweiligen Stargast, der den Rücken freihält? „Nein! Ich mache meinen Dienst mit Leidenschaft – aber wir dienen der Musik. In dem Moment ist mir dann wurscht, von welchem Platz aus. Das geht nur so.“

Mit vorbildlich spielen allein ist es nicht getan. Die Partitur müsse man besser kennen als der Dirigent. Das große Ganze ist im Blick behalten, nicht nur die Streicher. „Da trägt man die Verantwortung. Meine erste Stufe, zu der ich hochblicke, ist die Partitur. Und dann erst kommt der Dirigent.“

Direkt vor dem Gespräch war das Herbert Blomstedt gewesen, frische 95 Jahre alt, ihm hat Greutter ein wenig Feinschliff-Stimmgruppen-Arbeit an einer problematischen Stelle abgenommen. Geschätzte 30 Prozent des Jobs haben nichts mit Noten zu tun? „Vielleicht sogar mehr.“ Mit künstlerisch veranlagter Gruppendynamik umzugehen, Bogenstrich-Experimente durchführen, um die kollektive Phrasierung aus einem Guss zu formen, der Biorhythmus eines Orchesters, das alles muss erst gelernt und verstanden werden.

NDR-Konzertmeister geht: Bernstein und Zufall

Die Zahl seiner Konzerte mit dem NDR? Hat Greutter nicht parat, aber sie dürfte mindestens satt dreistellig sein, er teilt sich den Posten als Koordinierter Konzertmeister halbe-halbe mit seinem Kollegen Stefan Wagner, auch schon seit 30 Jahren dabei. Da kommt etliches zusammen seit 1982. Doch wie kam man als steil aufstrebendes Talent aus Linz, der sich an der New Yorker Juilliard School und in Bloomington ganz auf eine Solistenkarriere ausgerichtet hatte, in ein Hamburger Rundfunkorchester? Zwei klassische Gründe: Leonard Bernstein und Zufall. Bernstein war damals ebenfalls in Bloomington, wollte die Erste von Mahler dirigieren, Greutters Lehrer kommandierte ihn, auch ohne nennenswerte Orchester-Erfahrung, auf den Konzertmeister-Stuhl. „So war‘s halt … und es war geschehen um mich.“

Bernstein habe ihn dann auch gleich nach Wien mitnehmen wollen, aber da war der Zufall vor, in Form des damaligen NDR-Orchestermanagers Ulf Thomson, der ihm ebenfalls in Bloomington begegnete. Und ihn nach Hamburg einlud. Probespiel, bestanden, zum NDR gegangen. Und schon sind 41 Jahre rum.

NDR-Konzertmeister geht: „Gesetzgeber ist die Partitur“

Klar, dass Greutter sich gegen die Schubladisierung – Solist, Konzertmeister, Tutti-Spieler, Kammermusiker, Professor – wehrt. Er mache ja alles – und alles so sehr gern. Wer oder was nach ihm kommt, die Probespiele laufen schon, soll doch bitte schön auch neu sein. Schon, weil diese Musik in all ihren möglichen Versionen immer wieder vergänglich ist. „Heute ist schon wieder das Gestern von morgen.“

Besonders Schönes oder, diplomatisch ausgedrückt: Spezielles? In Greutters Probejahr als der Neue war das gewesen, erinnert sich Greutter, „Günter Wand war kein Streicher, aber er hatte ein Wahnsinnskonzept und war sehr dankbar, wenn man ihm am Instrument zeigte, was möglich ist.“ Beim letzten Satz von Schuberts „Großer“ C-Dur-Sinfonie hatte Greutter Vorschläge gemacht, die die Dienstjahr-Senioren hinter ihm als 1-a-Gründe fürs Probejahr-Aus ansahen und unmöglich fanden. Das haben wir ja noch nie so gemacht, da kann ja jeder kommen, diese Tonlage in etwa.

Greutter spielte ausgiebig vor, wie er es für richtig hielt, Pause, Applaus. „Genau so muss es sein“, kam von Wand. Na bitte. Und ging Greutter tatsächlich etwas oder jemand gegen den sprichwörtlichen Strich, dann sei er, dirigatdidaktisch fein ausgewogen, mit der Partitur zum Vorgesetzten gegangen: „Was Sie hier machen, steht eigentlich nicht da.“ Denn: „Gesetzgeber ist die Partitur. So habe ich mich immer rechtfertigen können. Und ich bin da sehr gnädig.“

Elbphilharmonie: Abschied bedeutet für Greutter nicht das Ende

Der Abschied, der sei jedenfalls kein End-, sondern höchstens mal ein Wendepunkt. Festivals, Kammermusik und ansonsten, genetisch bedingt, Natur, Berge und ein bisschen auch die private Weinbauleidenschaft ausleben im italienischen Friaul. Zum Aus und Vorbei ganz vorn zentral sagt Greutter noch, ebenfalls stolz und dankbar: „Der NDR war mein musikalischer Spielplatz, auf dem ich mich 41 Jahre austoben durfte, natürlich werde ich das vermissen, absolut. Aber: Ich werde weitermachen, ich hab noch so viel zu lernen.“

Abschiedskonzert: 19.6. 19.30 Uhr „Finale mit Roland Greutter“; Schönbergs „Verklärte Nacht“ und Schuberts F-Dur-Oktett. Elbphilharmonie, Kl. Saal.