Hamburg. Sir John Eliot Gardiner und das Amsterdamer Concertgebouw wurden für ihr Konzert mit Brahms 1 und 2 gefeiert. Doch etwas störte.
Für einen 80-Jährigen ist Sir John Eliot Gardiner nicht gerade untätig: Am Vortag noch dirigierte er seinen Hausgott Bach als Vorprogramm der Krönungszeremonie in Londons Westminster Abbey, vor einem knappen Monat eine spektakuläre h-Moll-Messe in der Elbphilharmonie und nun alle vier Brahms-Sinfonien, auf zwei Abende verteilt.
Die größere Sensation dieses Doppels wäre eine lokalstolze Reunion-Runde mit dem Hamburger NDR-Orchester gewesen, bei dem es ihn Anfang der 1990er nach vielen Reibereien gerade mal drei Jahre gehalten hatte. Das Amsterdamer Concertgebouw als ausführendes Organ?
Nun wirklich nicht die schlechteste Alternative. Und das alles am Sonntag pünktlich zum 190. Geburtstag des Hamburger Ehrenbürgers. Sehr schönes Timing also. Doch genau dafür ist Gardiner auf der Bühne seit Jahrzehnten mal bekannt, oft bewundert, mal gefürchtet.
Elbphilharmonie: Die Präzisionsröchlerin traf ein strafender Blick des Dirigenten
Auch wenn deutsche Spätromantik nicht zum Allerersten zählt, das man mit ihm verbindet – Gardiner blieb seiner sehr eigenen Deutungslinie treu, bei der Dritten stärker noch als in der Ersten: Tempo-Angaben dürfen gern, und gern auch großzügig ausgelegt und ausgekostet werden, lieber zwei genüsslich ausbremsende Rubati zu viel als eines zu wenig, wenn es darum geht, melodische Zusammenhänge und Abläufe in der Struktur zu verdeutlichen. Für die Dritte hieß das: Oft deutlich gemächlichere Tempi als gewohnt, die dem vermeintlich so gut bekannten Stück ein anderes Gemütstemperament gaben.
Kann aber auch sein, dass Gardiner einfach, über alle vier Sätze gedacht, so viel Zeit wie möglich im Klangangebot dieser Sinfonie verbringen wollte. Verübeln kann man ihm das nicht, denn die Qualitäten des Concertgebouw in dieser Hinsicht sind nun mal herausragend: bis ins Hauchzarte dimmbare Holzbläser-Sätze, ein makellos einheitlicher, warm fließender Streicherklang ohne störende Ecken und Kanten, spielerisch furchtloses, strahlendes Blech, allen voran die unglaublich sichere Horn-Gruppe.
Auf nachfassendes Herzschmerz-Vibrato bei den Streichern verzichtete Gardiner
Immer wieder gönnte sich Gardiner das Vergnügen, ansonsten gern untergehende Nebenstimmen präsent hervortreten zu lassen, dankbar vermittelt durch die Lupen-Akustik des Großen Saals. Interessant war auch, dass Gardiner auf ausdrücklich nachfassendes Herzschmerz-Vibrato bei den Streichern verzichtete; so wirkte der Gesamteindruck noch etwas straffer und schmachtreduziert unsentimentaler. Kein allzu großes Wunder also, dass es für diesen ästhetisch anderen Blick auf die Dritte aus einem Mittelrang direkt nach dem Schlussakkord einen begeisterten „Danke!“-Ruf gab.
Die Erste in die zweite Hälfte des Programms zu setzen, macht chronologisch wenig Sinn, dramaturgisch aber durchaus, weil sie mehr von Brahms‘ Ringen mit der damals für ihn neuen, respektfordernden Form Sinfonie hörbar werden lässt. Dieses Klassenziel wollte Gardiner prägnant und klar erläutern.
Brahms’ 1. Sinfonie: Oboen- und Horn-Soli zum dankbaren Hinknien
Den Einstieg in den Kopfsatz verstand und modellierte er als kurzen Moment aus Chaos und Zielstrebigkeit, wie einen nahen Verwandten des Beginns von Haydns „Schöpfung“. Anschließend brachte ihn die Betonung von melodischen Episoden in der Themenverarbeitung immer wieder dazu, Tempo und Drang aus dem Geschehen herauszunehmen und sich versonnen in der Partitur umzusehen, wo man es sich mit der Schönheit des jeweiligen Moments gut gehen lassen konnte, ohne gleich wieder an formale Zwänge denken zu müssen.
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Zurücklehnen und genießen also auch im langsamen Satz, Oboen- und Horn-Soli zum dankbaren Hinknien – unterbrochen von einer besonders störenden Präzisionsröchlerin.
Gardiner war darüber so wenig amused, dass er grantig strafend über die Schulter nachsah, woher das kam. Das allseits bekannte große letzte Thema des Schlusssatzes, Hamburgs heimliche Hymne, liebkoste Gardiner geradezu aus dem Orchester heraus, bevor es mit funkelnder Rasanz in Richtung Schlussapplaus und Ovationen im Stehen ging.
Heute Abend, 20 Uhr, folgen Brahms‘ Zweite und Vierte Sinfonie in der Elbphilharmonie, evtl. Restkarten