Hamburg. Alan Gilbert und das NDR Elbphilharmonie Orchester wagen sich ans Gründungswerk der amerikanischen Oper – und gewinnen.
Darf man das noch? Ein Stück spielen, das ein Jude über Afroamerikaner geschrieben hat, eine Milieustudie, die die Protagonisten als warmherzig, aber eher schlicht zeichnet? Knifflige Frage. „Porgy and Bess“ von George Gershwin, uraufgeführt 1935, ist schließlich nicht irgendein Boulevardstückchen, sondern das Gründungswerk der amerikanischen Oper.
Alan Gilbert und das NDR Elbphilharmonie Orchester haben es gewagt und auf ganzer Linie gewonnen. Es erklingt nicht weniger als ein Husarenstück, beginnend mit den rasant ungeraden Rhythmen in Marimbafon und Geigen. Und dann kommt schon gleich „Summertime“, dieses groovigste aller Wiegenlieder, das den Abend über immer wieder anklingen wird, mal melancholisch und mal frech.
Elbphilharmonie: Gershwins „Porgy and Bess“ – darf man das noch?
Die Sopranistin Nicole Cabell als die junge Mutter Clara singt es aus dem Rang. Konzertant soll diese Aufführung sein? So steht es im Programmheft. Okay, es gibt kein Bühnenbild, dafür aber reichlich Regie unter geschickter Ausnutzung des Raums. Man muss nur höllisch aufpassen mit dem Wort „szenisch“, denn da ist bei „Porgy and Bess“ die Familie Gershwin vor. Also treten die Beteiligten den Beweis an, wie man mit Spielwitz und Bewegungsfreude auch ohne Ausstattungsorgien den Geist dieser Oper herüberbringt. Die Musik sagt ja schon alles.
Der Komponist und die Textautoren, Edward DuBose Heyward und Gershwins Bruder Ira, hatten noch selbst verfügt, dass die Gesangspartien nur mit, wie man heute sagt, Persons of Color besetzt werden dürften.
„Porgy and Bess“ in der Elbphilharmonie: ein Stimmenfest
Der Abend in der Elbphilharmonie wird ein Stimmenfest; der Cast ist vom Allerfeinsten. Kevin Short mit seinem warm strömenden Bassbariton-Timbre ist ein Parade-Porgy. Die Arie „I got plenty o’nuttin‘“ (auf Deutsch etwa „Von nichts habe ich jede Menge“) komprimiert er zu einem Mini-Rollenporträt: Arm ist dieser Porgy und gehbehindert dazu und doch mit seinem großzügigen Wesen Teil der verschworenen Gemeinschaft der Catfish Row, jenes Südstaatensträßchens, in dem die Handlung angesiedelt ist.
Gershwin bietet ein herrlich pointiertes Kaleidoskop an Typen auf. Adrienne Danrich beglaubigt mit ihrem voluminösen, farbenreichen Sopran, wie Bess ohne jede Koketterie zwischen zwei Männern schwankt. Und der Tenor Chauncey Packer sorgt als windig-hyperaktiver Drogendealer Sportin‘ Life mit „It ain’t necessarily so“ für einen der vielen komischen Höhepunkte.
„Porgy and Bess“ wird zum Manifest für ein musikalisches Miteinander
Gershwin war oft vor Ort; er hat genau hingehört und die traditionellen Gebräuche, Gebete und Gesänge kongenial mit Jazz und romantischer Operntradition zu einer so filigranen wie mitreißenden Einheit verschmolzen. Gilbert wiederum, von der musikalischen Sozialisation her wie der Komponist durch und durch New Yorker, hat diese Musik im kleinen Finger. Er ist den Sängern stets nah, und das Orchester folgt ihm mit einem lässigen Schwung durch die Partitur, als täte es jahrein, jahraus Dienst am Broadway.
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Sensationell auch, wie das für diese Gelegenheit mal wieder zu einem veritablen Chor aufgestockte NDR Vokalensemble die Nuancen der Musik trifft. Die Südafrikanerin Ernestine Stuurman ist mit dabei und brilliert mit der witzigen, virtuosen Einlage als Erdbeerverkäuferin. So wird dieser Abend zum Manifest für ein musikalisches Miteinander jenseits von Kategorien wie Stil, Sprache und Hautfarbe. Das tut erschreckenderweise immer noch not.