Hamburg. „Ich bin ein Trotzkopf“: Eine Würdigung zum 100. Geburtstag des großen Wahl-Hamburger Komponisten György Ligeti.

Posthum hat György Ligeti ziemlich recht behalten mit seiner Klage, er sei im „schalltoten Raum“ Hamburg „sehr unberühmt und sehr unaufgeführt“. War da was, könnte man sich genau jetzt fragen, ein Vierteljahrhundert, nachdem der NDR dem Wahl-Hamburger 1998 mit einem viertägigen Konzert-Festival so demonstrativ wie dekorativ zum 75. Geburtstag gratuliert hatte?

An diesem Sonntag steht der 100. Geburtstag dieses epochal wichtigen Komponisten an, der 2006 in Wien starb. Doch eine ähnlich ausgiebige, weithin sichtbare Liebeserklärung auf Augenhöhe gibt es nicht in jener Stadt, in der er von 1973 bis 1989 an der Musikhochschule unterrichtete und an deren damals schwammiger Haltung zu Kultur er sich („Ich bin ein Trotzkopf“) immer wieder erbost rieb.

György Ligeti wurde 1923 in Siebenbürgen geboren und starb 2006 in Wien.
György Ligeti wurde 1923 in Siebenbürgen geboren und starb 2006 in Wien. © Hulton Archive/Getty Images | Erich Auerbach

Mehrere Hochschulen der Stadt eröffneten zwar gerade in Harburg gemeinsam ein „Ligeti-Zentrum“, dessen guter Vorsatz eines „interdisziplinären Wissenstransferzentrums“ aber arg nach verkopftem Elfenbeinturm-Neubau klingt. Echte, leidenschaftliche, großformatige Herzensnähe für einen auch heute noch überraschend modern Klingenden sähe anders aus. Zu Brahms‘ 100. Todestag hatte es hier, in dessen Geburtsstadt stark gebrahmst. Damals hieß das Motto „Ehren durch Aufführen“. Ligeti, immerhin seit 1975 Träger des Hamburger Bach-Preises, ist nach wie vor genialer Außenseiter. Die vielen wichtigen Stücke – das „Requiem“, „Lux aeterna“, das Klavierkonzert, die frühen Orchester-Meisterwerke, Kammermusikalisches, die Chor-Arbeiten, um nur einige zu nennen – sind Raritäten im Spielplan.

György Ligeti zum 100.: Der große Uneinsortierbare

Allzu leicht machen sollte es man sich mit ihm allerdings auch nicht. Ligetis Handschrift – seine Autographen überschüttete er mit kunterbunt notierten Details – entzieht sich schnellen, handlichen Festlegungsversuchen. Sein Stil hat sich mehrfach in etliche Richtungen verändert, ist gereift, gewuchert, mutiert, wie die Fraktale, für deren abstrakte mathematische Schönheit sich der Naturwissenschaftler in Ligeti begeistern konnte.

Dass der Synästhet Ligeti, der Klänge bunt wahrnahm, gern Pullover mit wilden Farbmustern trug, muss ihm ein besonderes Vergnügen gewesen sein. Verschrobenen Humor hatte er auch, reichlich sogar – bestes Beispiel dafür war sein 1962 uraufgeführtes „Poème Symphonique“, in dem 100 Metronome so lange klackerten, bis sie irgendwann nicht mehr klackerten.

György Ligeti liebte die Mehrdeutigkeit, das Unberechenbare

Immer wieder schuf er sich neue Klangwelten aus dem Nichts, bereits als Fünfjähriger, 1923 geboren im damals noch rumänischen Siebenbürgen in eine jüdische Intellektuellenfamilie, hatte er sich die geheime Insel „Kilviria“ mitsamt ihrer Sprache zurechtfantasiert. Er liebte die Mehrdeutigkeit, das Unberechenbare, das schnittige Umfahren von Konventionen und Prinzipien. „Alles, was eindeutig ist, ist mir fremd“, erklärte der „Grübler und Phantast“ seine Sicht auf die Welt.

Man begreift ihn als Ganzes wohl erst, wenn man sich kreuz und quer durch seinen Werkkatalog hört und die Neuerfindungen zu einem Gesamtbild voller Widersprüche und Kurswechseln collagiert. Nicht alles ist gut gealtert, seine stark surreale Weltuntergangs-Oper „Le Grand Macabre“ riecht in manchen Untenrum-Witzchen des Librettos schon ziemlich streng, doch der überbordende Situationswahnsinn der Musik macht vieles wett.

György Ligeti zum 100. Geburtstag: Ein Schwarm aus entfesselten Tönen

Also: Wer ist Ligeti, und wenn ja: wie viele? Der frühe Ligeti war stark durch die Volksmusik-Traditionen seiner Heimat beeinflusst. Die Auseinandersetzung mit der Nachkriegs-Avantgarde nach seiner Flucht 1956 aus Ungarn in den Westen, zunächst nach Wien, brachte ihn auf gänzlich andere Gedanken. Die Zeit im Kölner WDR-Studio für elektronische Musik, im ästhetischen Nahkampf mit dem Alpha-Komponisten Stockhausen, zeigte ihm, was er ganz bestimmt nicht wollte.

Es folgte jene Phase, in der er Musik schrieb, die vor allem Klangfläche war und statisch wirkte, obwohl sie ständig pulsierte und waberte wie ein amorphes Lebewesen. Bekannt, berühmt wurde er durch Orchester-Gemälde wie „Apparitions“ (1960) oder „Atmosphères“ (1961). Man kann beim Hören an Struktur-Etiketten wie „Clusterschichtung“ oder „ausziselierter Mikropolyphonie mit gegenläufiger kontrapunktischer Überlagerung“ verzweifeln. Oder man bestaunt, ganz ohne Ringen mit diesem Vorbildungs-Ballast, das schillernde Klangfarben-Wetterleuchten als das, was es ist: pure Imagination, ein Schwarm aus entfesselten Tönen.

György Ligeti zum 100.: Er stellte sich gern Geschicklichkeitsaufgaben

Den Filmregisseur Stanley Kubrick faszinierte dieses Neudenken von Musik so sehr, dass er 1968 Ligetis Musik – ohne sich vorher groß um dessen Einwilligung zu kümmern – in seinem Science-Fiction-Meisterwerk „2001. A Space Odyssey“ unterbrachte und damit auch popkulturell verewigte. 1999 kam es mit „Musica Ricercata“ in „Eyes Wide Shut“ zu einer Wiederbegegnung.

Später verliebte der „musikalische Feinmechaniker“ Ligeti sich mehr und mehr in motorische Abläufe und Konstruktionsprinzipien. Zu den fast utopischen Anforderungen der Klavier-Etüden meinte der Pianist Alfred Brendel: „Man müsste drei bis fünf Hände haben, um sie spielen zu können.“ „Ligeti hatte immer zwei Finger in der Steckdose, wenn er über Musik sprach“, staunte die „Zeit“ einmal, er kam beim Vorsichhindozieren mühelos vom Hundertsten ins Zehntausendste.

Ligeti legte sich frontal mit vermeintlichen Gralshütern der Avantgarde an

Geschicklichkeitsaufgaben, die Ligeti sich stellte, reizten sein chronisch nach Problemen und Lösungen suchendes Hirn. Wenn es ihm kreativ lohnend erschien, arbeitete er sich in die Rhythmus- und Tonsysteme westafrikanischer Pygmäen genauso neugierig ein wie in die nähmaschinenhafte Verschrobenheit der Klavier-Automaten seines US-Kollegen Conlon Nancarrow.

Und zwischendurch legte Ligeti sich frontal mit vermeintlichen Gralshütern der Avantgarde an, indem er kleine musikgeschichtliche Rollen rückwärts machte – einfach, weil ihm danach war. Ein Horntrio, das sich 1982 vor dem spätromantischen Klassizisten Brahms verbeugte? Warum denn nicht. Für regelrechte Melodien Klassen-Prügel als „Verräter“ zu kassieren? War ihm sicher nicht egal, störte ihn aber auch nicht. In seiner Musik war nur sehr selten etwas, wie es schien.

György Ligeti: Ein Fan von „Alice im Wunderland“

Wer zu ihm finden wollte, musste hindurch durchs Labyrinth, tief hinein in den sprichwörtlichen Kaninchenbau, den Ligeti als Fan von „Alice im Wunderland“ nur zu gern immer wieder anders bohrte. Auch, um sich selbst nicht zu langweilen, und weil er wusste: „Die Antwort auf den Sinn von Musik ist so schwer zu geben wie die Antwort auf den Sinn des Lebens.“

Die nächsten Ligeti-Konzerte: 26.5. Klavier-Recital Florian Heinisch, u.a. mit „Musica Ricercata” und der Etüde “L’escalier du diable”, Elbphilharmonie, Kl. Saal / 29.5. Noah Quartett. Werke von Haydn, Ligeti und Brahms, Rolf-Liebermann-Studio / 2.6. Klavier-Recital Anton Gerzenberg, u.a. Buch 1 und 2 der „Études pour piano“, Elbphilharmonie, Kl. Saal. / 8.6. Amaryllis Quartett. Werke von Ligeti, Bach und Mendelssohn. Laeiszhalle, Kl. Saal. 12.6. Ligeti-Gedächtniskonzert: Werke von Ligeti-Schülern mit dem Ensemble CHAOSMA, Moderation: der ehemalige Ligeti-Schüler Manfred Stahnke. Forum der Hochschule für Musik und Theater. Film-Dokumentation: „Kosmos Ligeti“ auf www.arte.tv abrufbar.