Hamburg. Designierter NDR-Chefdirigent Gilbert mischt die Elbphilharmonie mit der irren Inszenierung von “Le Grand Macabre“ auf. Auch heute.

Das alles hätte, mühelos, auch mächtig in die Hose gehen können. Eine „Anti-Anti-Oper“ aus dem späten 20. Jahrhundert, deren legendärer Ruf viel damit zu tun hat, dass sie so brutal aufwendig ist und gleichzeitig, trotz des philosophierenden Ernsts des Themas, so anarchistisch albern. Das Orchester – massenhaft Schlagwerk und vor allem Bläser, dazu ein Dutzend aufeinander abgestimmter Autohupen und Türklingeln – wurde Teil der Bühne, war aber auch Teil der Inszenierung.

Der NDR Chor saß zunächst oberhalb des Podiums, lief dann aber kreuz und quer durch die Etagen. In der Mitte dieses Tumults im Großen Saal der Elbphilharmonie stand nur ein einziger Dirigent, der in diesem Gaga-Chaos den Überblick sichern sollte und das alles tatsächlich unfallfrei und straff zusammenhielt, um daraus György Ligetis einzige, wunderbar bekloppte Weltuntergangsvertagungs-Oper „Le Grand Macabre“ zu machen.

Großartiges Ensemble musste Mumpitz singen

Blechbläser kamen, spielten, gingen, hier, da und auch mal kurz dort; auf zwei großen Leinwänden liefen skurrile Videos mit liebevoll gebastelten Dingen als Fußnoten-Comic, einige fanden live auf einer Miniatur-Puppenbühne statt, die abgefilmt wurde. Das durchweg großartige, offenbar handverlesene Sänger-Ensemble, von Catherine Zuber in aberwitzige Kostüme gesteckt, musste unentwegt Mumpitz singen, es ging wahlweise um Sex, Suff, Schimpfwörter, Blödsinn oder den Tod.

Der Landesfürst Go-Go, Anthony Roth Constanzo mit hinreißend zwitschernder Countertenor-Stimme, war als Spielball höherer Mächte verkleidet, ein Geheimdienstchef (toll: Audrey Luna), in höchsten Sopran-Tönen trillernd, produzierte sinnfreie Silbenrätsel. Hintern wurden geküsst, Wilbur Pauley als dämlicher Astradamus mit Catweazle-Ähnlichkeit und Heidi Melton als dessen dauergeile Gattin Mescalina waren schon darstellerisch eine Wucht.

Weltuntergang ohne Pardon

Minister vermöbelten sich. Wer – Ähnlichkeiten mit aktuellem, realen Schwachsinn dürften nicht zufällig gewesen sein – von „Brexit“ oder „collusion“ brabbelte, wurde ausgebuht und mit Papierkugeln beworfen. Und für Gevatter Tod, leichenbleich geschminkt und von Werner van Mechelen dröhnend belebt, hatte man am Bühnenrand eine wunderbar unechte Grabplatte installiert, denn der Sensenmann war nicht zum Spaß aufgetaucht, sondern dienstlich da. Weltuntergang ohne Pardon, Jüngstes Gericht pünktlich um Mitternacht, das war der Plan von Nekrotzar gewesen, bevor ihn Piet vom Fass (süffig: Mark Schowalter) mit zu viel Fusel vor dem Weltuntergangs-Vollzug ausbremste.

Uff, aber wirklich.

Ein bisschen war es wegen der sonderbar schuppigen Weiße-Haut-Wänden wie am Kalkberg bei den Karl-May-Festpielen in Bad Segeberg, dieses ständige Reinraushochrunter-Panorama, allerdings mit komplett anderer Musik. Denn die war vom Schillerndsten und Wildesten, wenn sie nicht mit gekonnt verbeulten Melodie- oder Form-Zitaten aus der Musikgeschichte um sich warf wie ein Kind, dass sich auf der Suche nach der nächsten Lieblings-Tröte fröhlich durch seine Krempel-Kiste schaufelte.

Um die Künstlichkeit dieses „Breughellands“ im „soundsovielten Jahrhunderts“ noch zu betonen, schritt eine Hausmeister-Gestalt, die stark an Doc Brown aus „Zurück in die Zukunft“ erinnerte, durch das Bühnen-Durcheinander und übergab mit großem Ernst Requisiten an die Belegschaft, während sie wild durch die groteske Handlung kullerte. Schnell, sehr schnell drängte sich die eine Frage auf: Was hatten Alan Gilbert, von Herbst an neuer NDR-Chefdirigent, Regisseur Doug Fitch und der Rest ihres Teams wohl genommen, bevor sie sich – garantiert fröhlich kichernd – dieses Spektakel zurechtlegten und als Remake ihrer Produktion 2010 mit den New Yorker Philharmonikern vornahmen?

Elbphilharmonie wird zu Dada-Verona

Für zwei tolle, rauschhafte Stunden verwandelte sich der Große Saal der Elbphilharmonie in eine Avantgarde-Arena mit Surround-Beschallung und Rundum-Bespaßung. Ein Dada-Verona, so selbstverständlich und effekttrittsicher, als sei dieser Raum genau für derartigen Wahnsinn entworfen worden. Für diese Anstrengung dürfte das NDR Elbphilharmonie Orchester bei der Vorarbeit bis an tariflich geregelten Schmerzgrenzen gegangen sein, wahrscheinlicher ist: weit darüber hinaus.

Doch der Ehrgeiz, deswegen nicht zu kollabieren und zu beweisen, wozu man nach der Zeit mit Thomas Hengelbrock nun mit dessen Nachfolger Alan Gilbert im nächsten Wachstumsschritt fähig sein will, der war deutlich größer. Generalintendant Christoph Lieben-Seutter kann nun mit dieser Musikfest-Produktion einen weiteren Titel auf seiner Repertoire-To-Do-Liste epochaler Saal-Herausforderungen abhaken (für 2020 ist dort Messiaens Heiligen-Oper „Saint François d’Assise“ geplant).

Ligeti lebte jahrelang in Hamburg

Beim Happy End schwebte, wie passend als Abbinder, ein dickes, gelbes Friede-Freude-Eierkuchen-Mondgesicht über der Bühne. Und während das noch neue Konzerthaus sich bald von diesem Stresstest erholen kann, weist einige Kilometer entfernt an einem Haus in der Mövenstraße eine Gedenktafel weiter sehr unauffällig darauf hin, dass Ligeti dort jahrelang gelebt hatte. Dass er dort viele seiner Paralleluniversen aus Tönen und Ideen erfunden hatte, ohne einen einzigen Gedanken an Kompromisse zu verschwenden.

Jetzt, fast 40 Jahre nach der deutschen „Macabre“-Erstaufführung in der Hamburger Oper, wäre die nächste ideelle Gedenktafel fällig. Diesmal aber, knöchelhoch am besten, an der Wandvertäfelung im Großen Saal der Elbphilharmonie verschraubt. Um als Fuß-Note daran zu erinnern, wie sensationell, passend, mutig und wichtig es war, dieses Kunst-Stück ausgerechnet dort aufzuführen.

Termine: 12. und 13. Mai, jeweils 20 Uhr. Ausverkauft, evtl. Restkarten. NDR und abendblatt.de zeigen die Oper aber am Montag, 13. Mai live aus der Elbphilharmonie.