Nachruf: Der Komponist György Ligeti ist im Alter von 83 Jahren in Wien gestorben. Ein Kosmopolit der Klänge und Rhythmen: György Ligeti, einer der bedeutendsten Komponisten der Gegenwart, starb gestern in Wien.
Hamburg. "Künstlerische Freiheit bedeutet ein Frei-Sein von jeder Scheuklappe, auch von der der ,Modernität'. Ich habe keine Botschaft zu verkündigen." Eine Aussage, wie sie typischer nicht sein kann für György Ligetis radikales Selbstverständnis als Freischaffender, als Komponist der Gegenwart. Als Mensch seiner Zeit, für den es - nicht nur in politischer Hinsicht - kein Heute und kein Morgen ohne das Gestern geben konnte und durfte.
Ligetis prägendstes Stilmittel war, daß er um Himmels willen keins haben wollte. In seiner Musik, deren Komplexität im Klavieretüden-Zyklus bis an den Rand der Unspielbarkeit mit Energie aufgeladen ist, traf immer wieder überraschend aufeinander, was ausschließlich seiner Meinung nach zusammengehörte. Das konnten vertrackte Rhythmusballungen sein, ein aus fremden Regionen importiertes Tonsystem, das in keines der üblichen Schemata paßte, oder eine diffus schillernde Klangflächenschichtung, die virtuos unterschlug, wieviel Detailarbeit innerhalb dieses Geflechts passieren mußte, um so unscharf zu klingen. Man hat ihn "musikalischen Feinmechaniker" genannt, doch erst wenn die Tüftelei unbemerkt blieb, wollte er mit sich zufrieden sein. "Wenn ich Musik höre, sehe ich auch Farben und Figuren."
Ligeti, dessen Leidenschaft für alle Arten von Naturwissenschaften mindestens so groß war wie für Musik, dachte, fühlte und arbeitete stets interdisziplinär, als eine Art Chaospraktiker frei nach Hegels Devise: "Der Weg des Geistes ist der Umweg." Man konnte ihn nach Trommeltraditionen auf Papua-Neuguinea fragen, nach subsaharischer Musik, nach Fraktalen oder nach Biochemie. Die Antworten klangen immer erschöpfend kompetent. Nur festlegen wollte er sich nie, und erst recht nicht kategorisieren lassen durch den Erwartungsdruck von außen. Darin, aber auch nur darin, war er knallharter Traditionalist. Für sein 1982 vollendetes Horntrio, eine Hommage an Brahms, wurde er von Scheuklappenträgern seiner Zunft als "Verräter an der Avantgarde" vorverurteilt, weil er, beharrlich gegen den Mainstream schwimmend, konventionelle Melodien und in tradierten Formen zu komponieren gewagt hatte. Die Aufregung war ihm zwar nicht egal, aber sie störte ihn nicht. Er machte einfach weiter so. Oder ganz anders, je nachdem.
Seine Herkunft prägte den Tonfall seines Lebens: Geboren wurde er 1923 in Siebenbürgen, ein Großteil seiner Familie wurde in den KZs der Nazis ermordet. Die abenteuerliche Flucht nach dem Ungarn-Aufstand 1956 aus der braven, aber sicheren Dozententätigkeit in Budapest eröffnete eine neue Welt für den Wißbegierigen aus dem Osten. Im WDR-Studio für elektronische Musik, damals ein Epizentrum der Moderne, begegneten sich Ligeti und Stockhausen, Boulez, Nono und Kagel. Mindestens zwei Weltsichten trafen aufeinander und wurden langfristig keine Freunde. 1960 wurden Ligetis Zeitgenossen durch seine Orchesterkomposition "Apparitions" erstmals hellhörig, nur wenig später schuf Ligeti mit "Atmosphères", bei den Donaueschinger Musiktagen uraufgeführt und später (gegen Ligetis Willen) von Stanley Kubrick als Tonspur für "2001 - Odyssee im Weltraum" verwendet, einen Meilenstein der Moderne.
Wie Ligeti komponierte, so sprach er auch über Musik. Alles hing für ihn, der sich augenzwinkernd als "sorgfältig, umständlich und pedantisch" charakterisierte, mit allem zusammen. Andererseits lebte er immer wieder, und ganz besonders in seiner "Anti-Anti-Oper" "Le Grand Macabre" seine Vorliebe für grotesken, wahnwitzig absurden, rabenschwarzen Humor aus, bestimmt auch ein Nachhall der bitteren Erfahrungen unter dem Joch von gleich zwei Diktaturen. Doch wenn Ligeti erst einmal ins weitschweifige, ironisch eingefärbte Plaudern kam, über Ungarn, seine Plattensammlung, seine Ideen und schließlich mindestens noch einmal über Ungarn, dann spielte Zeit keine Rolle mehr. Die Stringenz kam, früher oder später, mit der Unübersichtlichkeit.
Hamburgs zeitweilige Ignoranz ihm gegenüber - er selbst nörgelte einmal, er sei hier, "im schalltoten Raum, sehr unberühmt und sehr unaufgeführt" gewesen - ist längst Vergangenheit. Schon zum 75. Geburtstag wurde der langjährige Kompositionsprofessor der Musikhochschule und Bachpreisträger mit einem mehrtägigen Konzertfestival der NDR-Reihe "das neue werk" gefeiert. Die "Zeit"-Stiftung gab bei Ligeti ein "Hamburgisches Hornkonzert" in Auftrag, und wann immer in den vergangenen Jahren Musik von ihm auf den örtlichen Spielplänen stand (zuletzt "Lontano" zur Eröffnung der Hamburger Ostertöne), stieß sie auf außerordentliches Interesse.
Erst im Alter machten viele große Ehrungen in aller Welt die Skepsis früherer Jahrzehnte wett. Man wußte endlich und bewunderte von ganzem Herzen, was man an Ligeti hatte, und auch, welches Maß an musikalischer Inspiration und ästhetischer Herausforderung man mit ihm als Vorbild verlieren würde. Er selbst blieb stets neugierig und offen für Abenteuer: So gab er 2001 in Berlin ein Konzert mit einem Pygmäenchor aus Zentralafrika, weil ihn die Komplexität dieser scheinbar archaischen Musik ungemein faszinierte.
In einem "Zeit"-Interview erinnerte er sich: "Ich habe zu meinen Studenten immer gesagt: Macht, was ihr wollt, nur bitte komponiert nicht in meinem Stil!" Gestern ist der Klang-Kosmopolit György Ligeti, 83 Jahre alt, in seiner anderen Heimatstadt Wien nach langer, schwerer Krankheit gestorben.