Hamburg. Anna Vinnitskaya spielt denkwürdiges Konzert voller Präzision, Eleganz und Leidenschaft. Es war nicht weniger als eine Sternstunde

Einspringen, mit einem Solo-Abend im Großen Saal der Elbphilharmonie. Als Ersatz für einen legendären Künstler wie Maurizio Pollini. Eine, sagen wir mal, nicht ganz anspruchslose Aufgabe. Das legt die Messlatte mit der Aufschrift „Erwartung“ denkbar weit nach oben. Aber Anna Vinnitskaya kann mit dem Druck umgehen. Wenn sie ihn denn überhaupt bemerkt. Die Pianistin wirkt nicht nervös, als sie auf die Bühne kommt. Nur hochkonzentriert, wie immer.

Sie ist ganz bei sich, beim Flügel, bei der Musik. Versenkt sich in den melancholischen Grundton eines Prélude und einer Fuge mit Variationen von César Franck. Sendet an- und abschwellende Klangwellen in den Raum, der in ein sanftes Schummerlicht getaucht ist. Manchmal scheint sich die Wahlhamburgerin fast in eine Art Trance zu spielen. Kurz legt sie den Kopf in den Nacken, schließt die Augen. Ja, das hat schon Magie.

Elbphilharmonie: Anna Vinnitskaya reißt ihre Zuhörer in einen Fieberwahn

Aber man spürt, dass das noch nicht alles ist, was sie vorhat, dass da gleich noch mehr passieren wird. Und das tut es auch, im zweiten Block, mit Musik von Alexander Skrjabin. Bei dessen h-Moll-Fantasie drückt Vinnitskaya das Intensitätspedal plötzlich bis unter den Boden durch und reißt den ganzen Saal mit, in einen klanggewordenen Fieberwahn.

Wie im Rausch taumelt das Stück durch die Tonarten und verschiedene Stadien der Überhitzung, ständig kurz vorm Delirium. Dichte Akkorde, wilde Intervallsprünge, bis in die Extremlagen des Instruments.

Angeblich wollte Skrjabin selbst das Stück nicht öffentlich aufführen, weil er sich den technischen Anforderungen nicht gewachsen fühlte. Anders Vinnitskaya. Sie hat alles im Griff und unter Kontrolle. Die Finger der Pianistin – hat sie wirklich nur zehn? – fliegen mit unfassbarer Präzision über die Tastatur, als könnte sie zur Not auch alle Töne zur selben Zeit spielen.

Ein irres Stück, eine umwerfende Interpretation. Sie saugt die Aufmerksamkeit an, mit einer solchen Macht, dass der Rest der Welt völlig ausgeblendet ist, zumindest für den Moment.

Nach Skrjabin heißt es erst mal: Luft holen, Adrenalinpegel langsam runterfahren

Puh. Erst mal Luft holen jetzt. Adrenalinpegel langsam runterfahren. Solche Überwältigungserfahrungen brauchen ein bisschen Raum. Ein Umfeld, in dem sich die Ereignisdichte etwas beruhigt. Sonst wäre es einfach zu viel. Und das weiß Anna Vinnitskaya. Sie hat die Spannungsverläufe und Energiekurven in ihrem Programm ebenso gekonnt choreografiert wie die Stil- und Stimmungswechsel.

In vier Impromptus von Chopin nimmt sie sich Zeit, innezuhalten und der tagträumerischen Atmosphäre der Stücke nachzulauschen. Sie lässt den Flügel singen, streut Schlenker und Verzierungen ein, als wären sie frisch improvisiert.

Vinnitskaya tupft unglaublich zarte Farben, fesselt mit ihrer Anschlagskunst

Bei Ravel regelt sie den Hitzegrad noch ein paar Grad weiter runter. Erforscht den Klangzauber, den der Komponist in seinen „Valses nobles et sentimentales“ so klar und kühl kalkuliert hat. Manchmal schimmert Ravels Faszination für Spieluhren durch, wenn die Musik in hellen Staccati tickt. Vinnitskaya tupft unglaublich zarte Farben, fesselt mit ihrer fein nuancierten Anschlagskunst.

Nur die rauen Sounds im ersten Stück deuten schon an, dass in Ravels Walzern auch destruktive Kräfte rumoren. Und dass Vinnitskaya die Suite als Anlauf für ihr dramatisches Finale einkalkuliert.

Denn das Programm mündet in der Klavierfassung von Maurice Ravels „La Valse“: einer 1920 vollendeten Hommage an den Wiener Walzer, die den vordergründig heiteren Charakter mit Rissen und Brüchen untergräbt. Unter den Händen von Vinnitskaya schwankt und wankt das Stück bedrohlich, der Untergrund bebt und brodelt. Dieser Walzer tanzt am Abgrund, da hallen die Erschütterungen des Ersten Weltkriegs nach.

Die Attacken im Bass erinnern bei Vinnitskaya an Kanonenschläge, dunkel und explosiv. Den letzten schlägt sie mit geballter Faust in die Tasten. Was für eine Geste, was für ein Klang! In ihm kulminiert die zerstörerische Wucht des Stücks. Hier bricht nicht nur ein Tanz, sondern mit ihm auch das alte Europa auseinander.

Elbphilharmonie: zwei besondere Zugaben als atemberaubender Schlusspunkt

Ein atemberaubender Schlusspunkt. Fast. Anna Vinnitskaya legt nämlich noch zwei Zugaben nach. Eine der Études-tableaux von Rachmaninoff. Und Chopins C-Dur-Etüde, in der die Pianistin noch einmal unwiderstehlich durch die Arpeggien rauscht, mit der ihr eigenen Verbindung von Präzision, Eleganz und Leidenschaft.

Vielleicht ist es ein Zufall – aber genau mit diesem Stück hat der junge Maurizio Pollini beim Warschauer Chopin-Wettbewerb 1960 Jury und Publikum elektrisiert. Jener großartige Pianist also, in dessen musikalischer Liga sie spätestens mit ihrem Einspringerkonzert auch angekommen ist. Sternstunde!