Hamburg. Die russischstämmige Pianistin und das NDR Elbphilharmonie Orchester gaben bewegendes Konzert – inklusive ukrainischer Hymne.

Ansprache einer Pianistin: Als Zugabe wolle sie Musik von Mieczysław Weinberg aus dem Jahre 1944 spielen, sagt Anna Vinnitskaya im Großen Saal der Elbphilharmonie: „Diese Musik spricht darüber, wie unerträglich… und aktuell… diese Zeit ist…“ – und nach diesen Satzfetzen versagen ihr die Worte; statt weiterzusprechen, macht sie, die seit vielen Jahren in Hamburg lebende gebürtige Russin, eine verzweifelt-dringliche Handbewegung.

Man schluckt schon dabei und erst recht beim langsamen Satz aus Weinbergs Klavierquintett, den Vinnitskaya mit vier Streichern aus dem NDR Elbphilharmonie Orchester spielt.

Anna Vinnitskaya in der Elbphilharmonie: Endzeitmusik

Der polnisch-russische Jude Weinberg hat seine Familie in der Shoah verloren, er selbst entkam knapp. Das Largo ist Endzeitmusik, es spannt einen Bogen vom zornigen Unisono des Beginns über leise Glockenschläge des Klaviers und den Aufschrei der Geige bis hin zur Klage der Streicher, die sich in quälenden Halbtonschritten ineinander verwickeln, während das Klavier schweigt.

Intensiver könnten die fünf kaum zusammen musizieren, und das, obwohl die Streicher, darunter zwei Russinnen, weit auseinandersitzend von ihren Plätzen aus spielen. Und intensiver kann man kaum zuhören als das Publikum in diesem Moment.

So erhält das Programm ungeahnt eine neue politische Dimension. Konzipiert wurde es in jenen fernen Zeiten, in denen ein Virus namens Sars-CoV-2 die Welt in Atem hielt – aber auch da schon mit Hintergedanken. Es beginnt nämlich mit „Melt“ von Sean Shepherd aus dem Jahre 2018, und die schlichten Satzbezeichnungen darf man getrost wörtlich nehmen: „Frozen“ – „Drowning“ – „Liquid“ – „Final“.

Shepherd mixt die Klangeffekte raffiniert

Programmmusik des 21. Jahrhunderts also. Shepherd greift dafür beherzt in die Kiste der bewährten Klangeffekte, aber er mixt sie raffiniert. Die sphärisch schockgefrosteten Klänge der Geigen, herzustellen durch ein Ziehen des Bogens ganz nah am Steg und ein Greifen der Finger, bei dem die Saiten nicht komplett abgedrückt werden, kennen wir spätestens seit Vivaldis „Winter“. Shepherd aber lässt sie gleich übergehen in einen ganz ähnlich gefärbten Akkord der Holzbläser, er schildert also nicht nur einen meteorologischen Zustand, sondern den Lichteinfall, den Blick des Betrachters gleich mit.

Es kracht und birst im tiefen Blech, das Tutti droht in gegeneinanderlaufenden Skalen zu versinken. Doch am bedrohlichsten ist das an sich so harmlose Timbre der Klanghölzer. Ihr Tropfen und Triefen muss das Unausweichliche des Untergangs gar nicht erst herausstreichen. Übrig bleiben melancholische Akkorde, und die Musik erstirbt in immer leiser werdenden Glockenschlägen. Mehr braucht man gar nicht zu hören, um zu wissen, an welchem Abgrund die Schöpfung steht.

Der emotionale Gehalt der Musik erschließt sich sofort

Nicht immer funktioniert bei den vielen Einwürfen die Abstimmung über die Distanzen hinweg. Bei Rachmaninows „Rhapsodie über ein Thema von Paganini“ für Klavier und Orchester dann lässt der Dirigent des Abends, Cristian Măcelaru, nichts mehr anbrennen. Das Thema von Paganini stammt aus dessen berühmter a-Moll-Caprice für Violine solo.

Doch während das Original, bei aller atemberaubenden Virtuosität, den etüdenhaften Rahmen nie ganz hinter sich lässt und brav eine Variation nach der anderen präsentiert, macht Rachmaninow ein Werk ganz eigenen Charakters daraus. Die Künstler ziehen ihr Publikum sofort hinein in diese vielgestaltige Musik, die sich in ihrem emotionalen Gehalt so mühelos erschließt. Es klappern die Knochen des Sensenmanns, wenn Geigen und Bratschen ihre Bögen mit dem Holz auf die Saite schlagen, es grooven die Hörner, und die vielen kleinen Nachschläge in Blech und Schlagwerk sind nadelfein zusammen.

Vinnitskaya zeigt vertikale Härte, wo Rachmaninow es verlangt

Das Orchester spielt unter Măcelarus Leitung beseelt und inspiriert und aufs kammermusikalisch Feinste mit der Solistin zusammen. Vinnitskaya webt sich über weite Strecken ins Geschehen hinein, aber wo Rachmaninow es verlangt, zeigt sie durchaus Lust an scharfer Artikulation oder vertikaler Härte.

Nach der Pause erklingt Schostakowitschs Erste. Das Stück gewährt einen faszinierenden Blick auf die kompositorische Entwicklung des russischen Schmerzensmanns. Es weist schon die typischen jähen Umbrüche und harmonischen Wendungen auf, es ist schon zu erkennen, woraus sich der beißende Sarkasmus späterer Werke speisen wird. Aber noch – die Sinfonie wurde 1926 uraufgeführt – ist die politische Grausamkeit nicht Realität, höchstens Ahnung. Und der verleihen die Beteiligten Gestalt, wach, aufmerksam und überaus farbig musizierend.

Elbphilharmonie: Anna Vinnitskaya spielt die ukrainische Hymne mit

Schon zu Beginn dieses unvergesslichen Abends hat das Orchester mit der ukrainischen Nationalhymne bei blau-gelber Beleuchtung eins der vielen Zeichen gesetzt, mit denen die westlichen Gesellschaften in diesen hilflosen Tagen Solidarität und Anteilnahme ausdrücken. Das Publikum lauscht stehend, in die Stille nach dem Schluss ruft jemand: „Slava Ukraini!“, das heißt „Ruhm der Ukraine!“.

Im folgenden Applaus huscht, abseits des Rampenlichts, eine schwarzgekleidete Gestalt von der Bühne. Ganz hinten am Orchesterklavier hat auch Anna Vinnitskaya die Hymne mitgespielt.