Hamburg. Die Musikerin ist nicht nur eine international gefeierte Pianistin, sie lehrt zudem auch an der Musikhochschule in Hamburg.
Die Klaviertastatur ist wie ein Butterbrot. Jedenfalls an diesem Montagmorgen in Raum 204 der Hochschule für Musik und Theater. „Stell dir vor, du bestreichst eine Scheibe“, fordert Anna Vinnitskaya ihre chinesische Studentin Yuening Wu auf und führt der jungen Frau die Hand. „So weich und fließend musst du spielen.“
Seit einer knappen Stunde arbeiten die beiden an Beethovens Klaviersonate in A-Dur op 2 Nr. 2, doch die Spitzenpianistin, die an der Hochschule eine Klavierklasse unterrichtet, ist noch lange nicht zufrieden. Gerade hatte sie sich, die Partitur auf dem Tisch, eine Konzentrationsfalte auf der Stirn, den ersten Satz vorspielen lassen. Jetzt geht es an die Detailarbeit. „Du hast alles gemacht, was ich dir letzte Woche gesagt habe“, befindet die 34-Jährige, „Aber das ist noch nicht genug.“ Also wird die „Butterbrot-Passage“ weiter geübt. Vinnitskaya spielt mit oder vor, korrigiert hier, verfeinert da. Wieder und wieder. „Es ist nicht so schlecht“, resümiert sie irgendwann. Ist das jetzt ein Lob? Ihre Studentin jedenfalls lächelt. Und macht sich sofort an die nächste Passage.
Mit 25 war sie bereits Professorin
Als Klavierstudentin Zeit mit Anna Vinnitskaya verbringen zu können ist schließlich ein Hauptgewinn, eine Auszeichnung. Ein bisschen so, als bekäme man Religionsunterricht beim Papst. 2007, im Alter von 23 Jahren, gewann sie in Brüssel den Concours Musical Reine Elisabeth, einen der weltweit wichtigsten Wettbewerbe unter anderem für Klavier. Da war die gebürtige Russin selbst noch Studentin an der Musikhochschule am Harvestehuder Weg. Erst drei Jahre später legte sie ihr Konzertexamen ab.
„Nach dem Wettbewerb bekam ich so viele Konzertangebote, dass für den Studienabschluss einfach keine Zeit war“, erinnert sie sich. Also nutzte sie einen ohnehin geplanten Auftritt in der Laeiszhalle als Prüfung. Und bestand – keine Überraschung – mit Auszeichnung. Mit 25 war sie bereits Professorin, die jüngste in Deutschland. „Einige meiner ersten Studenten waren sogar älter als ich“, sagt Anna Vinnitskaya. Anfangs sei es schwer gewesen, denn: „Manche haben mich nicht als Autorität betrachtet, sondern sahen mich eher als Freundin.
Russische Strenge
Ich aber musste als Lehrerin Distanz halten.“ Auch die typisch russische Strenge, die sie von ihren eigenen Lehrern kannte, kam nicht immer gut an. „Manche Studenten brauchen es, gepusht zu werden und können auch einen etwas härteren Ton vertragen, andere halten das nicht aus und müssen immer wieder ermutigt werden.“ Bei Evgeni Koroliov, der sie an der Musikhochschule unterrichtete, sei ein „recht gut“ das höchste Lob gewesen. „Man kann doch nicht alles gleich ,ganz toll’ finden“, sagt Anna Vinnitskaya. „Was will man denn sagen, wenn es wirklich mal herausragend war?“
Menschlich gesehen: Professorin mit 25
So zugewandt und herzlich sie im Gespräch ist, so unerbittlich und kompromisslos kann sie sein, wenn es um das – nach der Familie, mit der sie in Langenhorn wohnt – Wichtigste in ihrem Leben geht: die Musik. Noch immer ärgert sie sich über eine ehemalige Studentin mit großem Talent, die einfach nicht diszipliniert genug übte: „Ihre Faulheit hat mich so wütend gemacht, dass ich sie bitten musste, in eine andere Klasse zu wechseln. Ich mochte sie wirklich, aber es waren bei mir irgendwann zu viele Emotionen im Spiel.“
90 Minuten Einzelunterricht pro Woche
Acht Studenten unterrichtet Anna Vinnitskaya, jeder bekommt 90 Minuten Einzelunterricht pro Woche, und wenn sie auf Konzertreise etwa in Asien oder den USA ist, wird der Unterricht am Wochenende nachgeholt. Eine Karrieregarantie ist eine berühmte Lehrerin wie sie indes nicht. „Es gibt so viele exzellente Musiker“, weiß Anna Vinnitskaya. „Nur sehr wenige machen Solokarriere.“ Die anderen verlegen sich vielleicht irgendwann auf Kammermusik oder werden Lehrer. Selbst der Sieg bei einem wichtigen Wettbewerb könne am Ende folgenlos bleiben.
Doch wer sich als Student mit der Frage beschäftige, ob sich der hohe Einsatz, das unablässige Üben, lohnt, sei bei ihr ohnehin falsch. „Wir machen Musik, weil wir ohne Musik nicht leben können“, sagt Anna Vinnitskaya mit großer Bestimmtheit und streicht sich eine braune Haarlocke aus der Stirn. „Es geht in erster Linie darum, Gefühle auszudrücken, und nicht darum, ein Publikum zu begeistern.
Engagierte Lehrtätigkeit
Wer das so nicht empfindet, sollte lieber kein Instrument spielen.“ Klare Kante einer Frau, die gerade für ihre engagierte Lehrtätigkeit mit dem Kulturpreis der Gunter und Juliane Ribke-Stiftung ausgezeichnet wurde. 20.000 Euro Preisgeld gab es. Und die sind nicht in eine Weltreise oder ein neues Auto geflossen, sondern in einen Steinway-Flügel, der nun bei den Vinnitskayas im Wohnzimmer steht. „Jetzt kann ich auch zu Hause richtig üben“, sagt sie. Und sieht glücklich aus.
Zwei Tage später steht im Orchesterstudio der Musikhochschule Anna Vinnitskayas Klassenabend auf dem Programm. Hier präsentieren sich die Studenten mit den Stücken, an denen sie gerade arbeiten, ihren Kommilitonen, einigen Besuchern und vor allem ihrer Professorin, die zweieinhalb pausenlosen Stunden mit großer Konzentration zuhört. Die Manöverkritik gibt es hinterher beim gemeinsamen Abendessen oder später unter vier Augen. „Nicht alle mögen es, öffentlich auf Fehler hingewiesen zu werden.“
Höllisch schwere h-Moll-Sonate
Werke von Bach und Chopin erklingen hier, ebenso Franz Liszts höllisch schwere h-Moll-Sonate und der Kopfsatz aus dem 2. Klavierkonzert von Sergej Rachmaninow mit Anna Vinnitskaya am zweiten Flügel, die den begleitenden Orchesterpart übernimmt. Yuening Wu ist an diesem Abend ebenfalls dabei. Natürlich mit der Beethoven-Sonate in A-Dur. An der Butterbrot-Passage hat sie hart gearbeitet, und als das Publikum nach dem letzten Ton applaudiert, huscht ein schüchternes Lächeln über ihr Gesicht. Vielleicht, weil auch Anna Vinnitskaya klatscht.