Hamburg. Vor Ort werden Kunstwerke, die im Schicksalsjahr der Weimarer Republik entstanden, gezeigt – und weisen Parallelen zu heute auf.
„Der blutige Aufruhr ist vorbei. Genießen wir den Karneval der Inflation.“ Das Zitat des Schriftstellers Klaus Mann (1906–1949) empfängt das Publikum im komplett grenadinerot gestrichenen Auftaktsaal der Hamburger Kunsthalle zur Ausstellung „1923. Gesichter einer Zeit“. Es ist eine Geburtstagsausstellung für die Freunde der Kunsthalle, die sich vor genau 100 Jahren gründeten.
Aber es ist noch viel mehr eine Rückschau auf dieses Schicksalsjahr der jungen Weimarer Republik, in dem sich die politischen Kräfte neu ordneten, Putschversuche an der Tagesordnung waren, die Wirtschaft durch die französische Besetzung des Ruhrgebiets am Boden lag, Menschen unter Verelendung, Hyperinflation und den Nachwirkungen der Spanischen Grippe litten.
Zur gleichen Zeit gab es in den 1920er-Jahren eine vielseitige Kunst- und Kulturproduktion sowie eine große Begeisterung für Sport und Bewegung. Theater, Kabarett, Tanzveranstaltungen, Konzerte, Kino und Literatur blühten auf; allein in der Kunst formten sich Impressionismus, Expressionismus, Neue Sachlichkeit, Surrealismus und die angewandte Kunst des Staatlichen Bauhauses.
„1923. Gesichter einer Zeit“: 2023 weist Parallelen zum Krisenjahr 1923 auf
Diese laut Direktor Alexander Klar „fantastische Polystilistik“, die einmalig in der Geschichte Deutschlands ist, war der Impuls für die Ausstellung. Bemerkenswert findet Klar, dass man unter all den Zeichnungen, Druckgrafiken, Gemälden und Skulpturen aus dieser Zeit keine Rückgriffe auf das gerade mal fünf Jahre zurückliegende Geschehen des Ersten Weltkriegs findet.
Stattdessen im ersten Raum: ein farbenprächtiges Blumenbouquet bei Rudolf Levy, Sehnsucht nach Ausbruch und Exotik bei Anita Rées „Teresina“, in dem die Künstlerin ein italienisches Mädchen mit Zitronen im Schoß porträtierte, oder auch Willi Baumeisters geometrische Anordnung „Mauerbild mit Halbkreis“, das auf eine Neuerfindung des Menschen à la Bauhaus verweist. Dazwischen das Plakatmotiv zur Schau: Karl Hofers „Freundinnen“ – sich mehr umklammernd als umarmend.
In gewisser Weise könne man diese Abkehr vom Vergangenen mit der heutigen Abwendung von der Corona-Pandemie vergleichen, so Klar. Ebenso wie die Menschen vor 100 Jahren kriegsmüde waren, seien viele heute pandemiemüde. „Corona-Kunst? Davon will doch keiner etwas wissen!“ Überhaupt weist 2023, ebenfalls ein Umbruchjahr in vielerlei Hinsicht, einige Parallelen zu 1923 auf.
Kunst wie Sammelsurium auf einem Vergnügungspark
Karin Schick, Leiterin Sammlung Klassische Moderne, und Andreas Stolzenburg, Leiter des Kupferstichkabinetts, haben zusammen mit Volontärin Juliane Au „1923. Gesichter einer Zeit“ als Ausstellung in der Dauerausstellung zur Klassischen Moderne kuratiert, wo sie ja zeitlich auch einzuordnen ist. Rote Wandtexte markieren rund 60 relevante Werke, die alle um 1923 entstanden sind.
„Erstaunlich“ findet es Karin Schick, „wie sich die Künstlerinnen und Künstler in den Räumen die Hände reichen, fragend in die Augen schauen, wie sie auf der Suche sind.“ Alles ist da, scheint möglich, gestaltbar im Wirrwarr von Richtungen und Systemen, im Sammelsurium von Attraktionen wie auf einem Vergnügungspark. Käthe Kollwitz wollte „wirken in dieser Zeit, in der die Menschen so ratlos und hilfsbedürftig sind“.
Für die Kuratorin war interessant: „Was können wir aus den Erwerbungen der Kunsthalle, die unter Direktor Gustav Pauli getätigt wurden, aus dieser Zeit lernen?“ Vielleicht am ehesten, dass die Gesellschaft durch gegenläufige Strömungen und Befindlichkeiten geprägt und auch gespalten war. Während der „Brücke“-Maler Erich Heckel in „Allgäu“ die Rückkehr zur Natur heraufbeschwor, schuf Rudolf Belling mit seiner „Skulptur 23“ eine technoide Darstellung des Menschen aus blitzendem Messing.
„1923. Gesichter einer Zeit“ in der Kunsthalle: Hungernde Kinder und Damen mit Pelz im Lehnsessel
„Obwohl keine Kriegshandlungen in den Werken thematisiert wurden, so waren es doch die Folgen des Krieges, die die Künstlerinnen und Künstler umtrieben“, beschreibt Andreas Stolzenburg. Otto Dix zeigt Armut, Hunger und Zerstörung in seinem Porträt „Mutter und Kind“ und in „Nächtliche Erscheinung“ eine Frau mit Totenmaske.
Bei Karl Kluths „Bildnis eines Jungen“ sind Anspannung, Resignation und Tristesse deutlich spürbar. Käthe Kollwitz prangerte ganz offen „Deutschlands Kinder hungern“ an und setzte sich mit „Abschied und Tod“ auseinander. Natürlich gab es auch Kriegsgewinnler. Davon zeugen „Dame mit Pelz im Lehnsessel“ von Max Liebermann oder George Grosz’ Feiergesellschaft „Bar in Cassis“.
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So wie in dieser Ausstellung, die so haargenau den Nerv der Zeit trifft, wird man vielleicht wieder in 100 Jahren zurückblicken auf dieses besondere Jahr 2023, in dem die Corona-Pandemie gerade so überstanden, die Sorge um Inflation und Ausweitung des Ukraine-Kriegs groß war. Und feststellen, dass es wiederum die Künstlerinnen und Künstler waren, die uns den Spiegel vor Augen halten und ausloten, was da möglich, gestaltbar ist.
„1923. Gesichter einer Zeit“ bis 24.9., Hamburger Kunsthalle (U/S Hauptbahnhof), Glockengießerwall 5, Di–So 10.00–18.00, Do 10.00–21.00, Eintritt 16,-/8,- (erm.), musikalisches Rahmenprogramm „Hörwerk-Kunstwerk“ unter www.hamburger-kunsthalle.de, Gratis-Audiotour in der Kunsthallen-App