Hamburg. Julia Bullock ist weit mehr als nur eine großartige Sängerin. Im Mai kommt die Träumerin mit Bodenhaftung mit einem Liederabend.
Momentan ist es nicht immer ganz einfach, Julia Bullock zu sein. Aber wohl auch ziemlich toll: Nach langem Hin- und Herüberlegen, was wie zueinander passt oder eben nicht, gibt es jetzt das erste eigene Album, und der Stolz darauf ist frisch und groß. Vor wenigen Monaten ist sie Mutter geworden, und der Stolz darauf ist noch größer. Und, last but not least, die internationale Karriere der Sopranistin aus St. Louis geht gerade durch eine weitere Decke.
Bullocks Erkennungsmerkmal in diesem kreativen Durcheinander, abgesehen vom raumfüllenden Lachen: Sie mag es gern anders als andere, und sie hat keine Angst vor horizonterweiterndem Anspruch, ob nun an sich selbst oder an andere. Dazu eine große Portion Bühnen-Charisma bei Live-Auftritten, fertig ist eine klug fordernde Künstlerin auf einer für sie weit offenen Überholspur.
Auf ihrem Album „Walking in the Dark“ kombiniert Bullock Spirituals und Songs, die schon Nina Simone, eines ihrer vielen Idole, gesungen hat, mit „Knoxville: Summer of 1915“ vom US-Klassiker Samuel Barber und Auszügen aus „El Niño“ vom Avantgarde-Altmeister John Adams. Der sah in ihr, damals noch keine 30 Jahre jung, eine Muse und schrieb um ihre wandlungsstarke, warm strömende Stimme herum gleich mehrere Opern-Hauptrollen.
Elbphilharmonie: Träumerin mit Bodenhaftung
Bullocks erstes Konzert, mit acht, war die Begegnung mit einer Naturgewalt namens Tina Turner, eine volle Performance-Breitseite, die mächtig Eindruck hinterließ. Die eigenen Weichen zur Musik jedoch wurden von ihr etwas anders gestellt: Noch während sie an der New Yorker Juilliard School studierte, trat Bullock schon neben Michael Tilson Thomas und vor dem San Francisco Symphony Orchestra auf. Danach ging es, wenig überraschend, steil voran mit der Karriere.
Der US-Regisseur Peter Sellars verewigte sich in Bullocks Vita fast so massiv, wie es etwa 170 Jahre früher Schumann mit seiner Ausrufung eines „Berufenen“ im Lebenslauf des noch jungen Brahms tat: „Auf eine wie sie haben wir gewartet“, hatte Sellars sich begeistert, „sie verändert die gesamte Kunstform. Wir hören die Stimme einer neuen Generation.“ Bullocks fühlt sich geehrt und reagiert entsprechend selbsterdend: „Tolles Zitat, vielen Dank … Ich versuche nur, immer besser in meiner Arbeit zu werden.“
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Zum Jahreswechsel war Bullock Stargast in Alan Gilberts NDR-Silvesterkonzert im Großen Saal der Elbphilharmonie. Demnächst kehrt sie für das Musikfest dorthin zurück, zwar „nur“ in den Kleinen Saal, aber mit einem ungewöhnlichen Programm, dem selten zu hörenden „Harawi“-Liedzyklus von Olivier Messiaen; eine Meditation über Liebe, Tod und den „Tristan“-Mythos, verschränkt mit peruanischer Folklore aus den Anden, bei dem sie nicht nur, wie es sich gehört, von einem Klavier begleitet wird, sondern auch von Tänzern.
Messiaens Schaffen war ihr schon im Studium zu Ohren gekommen, etliche Jahre später fügten sich die Ideen-Einzelteile der Umsetzung. Die extremen Gefühle in diesem Zyklus reizten sie, auch stimmtechnisch gehöre „Harawi“ zum Forderndsten, das sie je gesungen habe, erklärt Bullock.
Elbphilharmonie: Bullock steht sehr auf Überraschungen
Es wird also eindeutig kein eindeutiges und erst recht kein einfaches Konzert werden. Bullock steht sehr auf solche Überraschungen. Und sie hat inzwischen genügend Kontakte zu Gleichgepolten, die nicht immer nur das Ewiggleiche beim Publikum abgeben möchten. Gut singen können viele, sie will aufrichtig singen und sich treu bleiben.
„Alle Künstlerinnen und Künstler, die ich liebe, sind sich dessen bewusst, was um sie herum vorgeht, sozial, politisch, historisch. Sie haben die entsprechenden Entscheidungen getroffen, beruflich wie privat. Ich kann das, was ich als Künstlerin anbiete, nicht von dem trennen, was ich als Mensch mitteilen möchte. So einfach ist das wohl.“
Es gebe so viel, was sie frustriert, der Umgang der Menschen miteinander, die scheinbar unausbrechbaren Kreisläufe der Missbräuche und der Unterdrückungen. Auch in dem Repertoire, das sie singt, gehe es ja immer wieder letztlich nur darum: ums Menschwerden, ums Menschbleiben, trotz alledem. „Und ich kann nicht so tun, als sei das von meiner Leidenschaft fürs Singen getrennt.“
Bullock ist nicht nur Sängerin, sie engagiert sich auch hinter der Bühne
Ein Kreuz auf dem Bühnenboden und den Job erledigen, dagegen hat sie grundsätzlich nichts. Kunst kann ja auch mal nur Kundendienst sein. Aber Bullock ist nicht ausschließlich Sängerin, sie engagiert sich neben und hinter der klassischen Bühne. Kuratierte vielschichtige Programme für das Metropolitan Museum in New York, brütet mit einem Künstler-Kollektiv immer wieder Konzepte für genresprengende Konzert-Formate aus.
Für kräfteraubendes, nervensägendes Armdrücken mit den Traditionalisten der Klassik-Branche habe sie inzwischen einfach keine Zeit mehr, findet sie, zu viel Energieverschwendung. Dann doch lieber Adressen wie das kalifornische Ojai Festival, das bekannt ist für seine Scheuklappenlosigkeit, aber nicht für lediglich oberflächliche Lippenbekenntnisse zu Themen wie Diversität oder Repräsentanz.
Elbphilharmonie: Bullock wurde zum „Agent of change“ ernannt
Julia Bullock ist einer von sieben spezialklugen Köpfen aus vielen Sparten des Kunstbetriebs, die sich der Dirigent Esa-Pekka Salonen, einige Generationen älter, für seine konzeptionelle Neuerfindung des San Francisco Symphony als handverlesene Beratungsrunde ausgesucht hat. „Sehr cool“ findet sie diese Möglichkeit, diese Wertschätzung.
2021 wurde Bullock – ein schön mehrdeutiges Wortspiel – vom Klassik-Magazin „Musical America“ zum „Agent of change“ ernannt. Ein schönes Etikett, ja sicher, so sehe sie diesen Ehrentitel. Aber sollten sich nicht sowieso alle immer so verhalten, schickt sie als berechtigte Frage unmittelbar hinterher. Manche Dinge sind eben doch ganz einfach.
Konzert: 10. Mai, 19.30 Uhr. „Harawi – Gesang von Liebe und Tod”. Elbphilharmonie, Kl. Saal. Aufnahme: Julia Bullock „Walking in the Dark” (Nonesuch/Warner, CD ca. 17 Euro, LP ca. 30 Euro).