Hamburg. Konzerte mit Alan Gilbert, Kent Nagano und ihren Orchestern in der Elbphilharmonie – Sopranistin Julia Bullock begeistert.

Viele musikalischen Wege könnten über die Schwelle ins neue Jahr führen. Alle Jahre wieder ginge Eskapismus ins Beliebige, Traditionsduseln mit Walzer- und Polka-Antiquitäten aus der Habsburger Monarchie oder Beethovens Neunte als ganz großer gemeinsamer, humanistischer Nenner, der dadurch ja immer passt. Je anstrengender und nervensägender die vergangenen zwölf Monate waren, desto größer die verständliche Versuchung, sich dabei für ein, zwei Stunden von den Stressfaktoren der Gegenwart zu lösen.

NDR-Chefdirigent Alan Gilbert und sein Orchester aber haben sich für ihr Elbphilharmonie-Programm – gleichzeitig das bundesweit übertragene ARD-Jahresausklangs-Konzert 2022 – eine interessante Mischung aus Anspielungen und Hintergedanken zusammengestellt, die mit einigen Publikums-Lieblingen smart versüßt war. Gilbert walzerte zunächst gewissermaßen um die Ecke, denn anstatt wie die Wiener Philharmoniker-Kollegen ausschließlich mit Erbstücken aus der Strauß-Dynastie aufzuwarten, begann er mit Strauss.

Elbphilharmonie: Hoch die Hände, Jahresende

Richard Strauss, mit dessen lieblich aufgeschäumter „Rosenkavalier“-Suite, die als Opernhit-Potpourri zwar auch urwienerisch daherkommt, aber nicht ganz so frontal dreivierteldurchgetaktet. Abbinder am Konzert-Ende war mit Ravels „La Valse“ eine weitere raffinierte Paraphrase dieser Gemütsvertonung, in er es – ähnlich, aber anders – unterschwellig rumorte, um anzudeuten, dass auch vermeintlich gute Zeiten sich schnell ändern können. Die extrafeine Detailzeichnung in der Herausarbeitung der Klangnuancen war stellenweise ein Problem, aber kein übermächtiges.

Beim Strauss verwechselte das Orchester hin und wieder den Schmäh- und den Lautstärke-Regler; das kleine bisschen Verzögerung, um aus einem Walzer-Takt einen Wiener Walzer-Takt zu machen, ist auch nicht immer einfach. Die Freude an dieser Herausforderung, besonders fein im NDR-Holzsatz zu hören, glich kleine Unschärfen spielend wieder aus.

Elbphilharmonie: Gilbert und sein Orchester boten Anspielungen und Hintergedanken

Dass dazwischen ein Plädoyer für die tragisch jung gestorbene Lili Boulanger gehalten wurde, war in einem Rahmen wie diesem überraschend, aber verdienstvoll. Ihr „D’un matin du printemps“, eigenständig elegant gearbeitet und vage nach Debussys luftigen Harmonien klingend, hatte Charme und die Überzeugungskraft, sich auch abseits der bekannten Namen nach Lohnendem umzuhören.

Der Musical-Gigant George Gershwin, ein New Yorker Kind russisch-jüdischer Immigranten, steht eindeutig nicht in dieser Kategorie. Aber die 15 Jahre jüngere Margaret Bonds umso mehr; afroamerikanische Komponistin, Schülerin von Florence Price, die erst jetzt und auch nur von kleinen Teilen der Klassik-Branche angemessen wiederentdeckt wurde. Zentrale Entdeckung dieses Konzerts war die US-amerikanische Sopranistin Julia Bullock.

Eine geschmeidig strahlende Stimme, ein Bühnen-Charisma, das für drei Sängerinnen ausreicht. Bullock sang und feierte wechselweise vorwiegend unbekanntere Songs von Gershwin und Bonds, die einen mit klassischem Broadway-Aroma, die anderen stolz und ausdrucksstark auf Texte des „Harlem Renaissance“-Autors Langston Hughes geschrieben.

In Gershwins „Summertime“ phrasierte Bullock hinreißend und lässig, durch ihre Zugabe – Bernsteins „Somewhere“ aus der „West Side Story“ – wurde das Bedauern noch größer, dass sie an diesem Abend nicht mehr Bühnenzeit hatte. Auch die Orchester-Zugabe stammte von Bernstein, auch sie, die launig durchdrehende „Candide“-Ouvertüre, war ein cleverer kleiner Wink mit dem Taktstock, als Hoffnungs-Postulat für das Jetzt ab dem 1. Januar 2023: In dieser Operette, sehr frei nach Voltaire, geht es auch um die beste aller möglichen Welten.

Hübsche Einstiegspointe beim Feiertags-Auftritt

Für eine hübsche Einstiegspointe sorgte das Philharmonische Staatsorchester bei ihrem Feiertags-Auftritt in der Elbphilharmonie: Als die Musikerinnen und Musiker auftraten und einstimmten, wie gewohnt – um ihre Instrumente dann aber für ein paar Minuten ruhen zu lassen. Weil erstmal die Metronome den Ton angaben, die vor ihnen auf dem Boden standen und die sie, auf ein Zeichen von Generalmusikdirektor Kent Nagano, in Gang setzten.

Die tickten allerdings nicht synchron, sondern in verschiedenen Tempi. So entstand ein klackerndes Durcheinander, ein Rattern und Raspeln, aus dem nur hier und da zufällig ein erkennbarer Rhythmus hervortrat. Faszinierend. Ein schräger, ironischer Wurf, dieses „Poème symphonique“ für 100 Metronome von György Ligeti. Wie ein Kommentar zu unseren vergeblichen Mühen, die zerrinnende Zeit zu fassen zu bekommen.

Stimmiger Auftakt zum Silvesterkonzert der Philharmoniker

Ligetis Metronomklackerwerk – Appetizer für das jetzt anbrechende 100. Geburtsjahr des Komponisten – war jedenfalls ein stimmiger Auftakt zum Silvesterkonzert der Philharmoniker. An einem Tag, an dessen Ende viele Menschen gemeinsam die Sekunden herunterzählten, umkreisten auch Nagano und sein Orchester das Phänomen „Zeit“. Mit Auszügen aus Texten von Augustinus, Celan, Bachmann und Mohnnau sowie der Bibel, die vom Schauspieler Jens Harzer mittelinspiriert zwischen den Sätzen und Werken vorgetragen wurden. Und mit der Musik selbst.

Neben Ligetis vertrackt organisiertem Chaos ist Haydns Sinfonie Nr. 101 die engste Verbündete der Programmidee. Die gleichmäßig tickende Begleitfigur von gezupften Streichern und Fagotten im Andante hat der Sinfonie den Beinamen „Die Uhr“ beschert. Bei den Philharmonikern lief sie sehr präzise, mit einem federnden Staccato, für das Minju Kim und Christoph Konnerth am Fagott einen Extra-Applaus verdient hätten. Überhaupt, eine sehr gut aufgelegte Holzbläsergruppe, mit tollen Flöten- und Oboensoli. In den Geigen wäre noch ein Schuss mehr Silvesterenergie denkbar gewesen, gerade dort, wo Haydn kleine Presto-Raketen zündet.

Nagano und die Philharmoniker wissen genau, wie man eine Sängerin trägt

Für einen ganz anderen, verinnerlichten Blick auf die Zeit und die Vergänglichkeit steht Wolfgang Rihms „Das Lesen der Schrift“. Ein verhangenes Stück, geschrieben als Orchesterkommentar zum Brahms-Requiem, in dem dunkle Farben dominieren. Instrumente wie Posaunen, Hörner, Celli und Bässe grundieren den Klang, scheinen zu raunen und zu atmen. Eine anrührende Musik.

Schade nur, dass sich ein Teil des Publikums bemüßigt fühlte, die zerbrechlichen Töne mit kraftvoll ausgeworfenen Bronchiallauten zu übertrumpfen. Umso reiner und bezaubernder wirkte der vokale Glanz der Sopranistin Marie-Sophie Pollak. Zwar haben die beiden Liebes-Eifersuchts-Arien von Mozart und seine geistliche Solokantate „Exsultate, jubilate“ kaum Berührungspunkte mit dem Gedanken der Zeit – aber, egal, an Silvester darf’s ja auch bunt werden. Erst recht, wenn es so edle Farben sind.

Pollaks Timbre hat einen silbrigen Schimmer, der wie gemalt zu Mozarts Linien passt; ihre Koloraturen waren weich und geschmeidig. Nagano und die Philharmoniker wissen aber auch genau, wie man eine Sängerin trägt. Sie begleiteten Pollak sensibel und verschmolzen mit ihrem Klang. Etwa dort, wo die Kantate mit süßen Tönen um Frieden bittet. Hoffentlich hat das neue Jahr da gut zugehört.

Das NDR-Konzert wird am 1.1., 18 Uhr, wiederholt. Ausverkauft, evtl. Restkarten an der Abendkasse. Ein Mitschnitt ist in der Mediathek auf www.elbphilharmonie.de zu sehen, auf www.ndr.de/eo und www.youtube.com/ndrklassik. CD: Julia Bullock „Walking in the Dark“. Musik von Barber, Adams u.a. (Nonesuch / Warner, ca. 17 Euro). Konzert: 10.5. Messiaen „Harawi – Chant d’amour et de mort / Zwölf Lieder für Sopran und Klavier“ Elbphilharmonie, Kl. Saal.