Hamburg. „Nadine“ ist kein Buch wie jedes andere: Die Hamburgerin Katrin Seddig erzählt von beschädigten Menschen. Warum?
Es fängt bei den Cordhosen an. Hier in der kleinen Parkanlage in der Altonaer Neuen Mitte gibt es, was die angeht, keine Sichtung. Es sind auch keine älteren Menschen unterwegs, es ist ein neues, junges Quartier. Aber als es um ihren Schal geht, als der Abendblatt-Fotograf ihre Farbauswahl lobt, kommt Katrin Seddig aufs Älterwerden zu sprechen. Und dabei auf die Cordhosen. Mit 70, sagt sie, „geht das heute bei Männern wieder los, sie tragen keine gedeckten Farben wie früher, sie tragen rote Cordhosen, gefällt mir“.
Stimmt eigentlich, das lief als Grundannahme über die heute bisweilen jugendlichen Rentner eh immer so mit: Die verstecken sich nicht mehr in Beige und Grau. Katrin Seddig ist Schriftstellerin, es ist ihr Beruf, genau zu beobachten. Das hat sie in den vergangenen fast anderthalb Jahrzehnten getan. Sie hat sich Menschen angeschaut, nicht nur äußerlich, und dann hat sie Romanfiguren aus ihnen gemacht.
Katrin Seddig: 2020 bekam sie den Hubert-Fichte-Preis
Wahrscheinlich war noch keine mit roten Cordhosen dabei, aber alte Leute traten schon im Verlaufe der Handlung auf, fast immer. Das ist auch in „Nadine“ so, dem sechsten Roman Seddigs. Einer Autorin, der die Jury anlässlich der Verleihung des Hubert-Fichte-Preises vor zwei Jahren attestierte, sie verstehe es, „die Verletzungen und Bedürfnisse ihrer Figuren auf eine Weise freizulegen, die grausam und gütig, komisch und wahrhaftig zugleich ist – und ihnen dabei ihre Würde zu lassen“.
Verletzungen, Beschädigungen, Prägungen: Darum geht es auch in „Nadine“. Die Titelfigur, knapp über 50, steckt in einer familiären Klammer, die sie schmerzhaft mit dem Thema Vergänglichkeit konfrontiert. Beidem begegnet sie schroff, der Verlust ist in ihr eingekapselt: dem Selbstmord ihrer Tochter Mizzi, dem Dahinsiechen ihres sterbenskranken Vaters. „Nadine“ ist, typisch Seddig, ein Roman über disharmonische Familienverhältnisse.
An diesem Tag treffen wir uns mit ihr, um über Nadine zu sprechen. Beziehungsweise vor allem über Nadine, diese Figur, die einem so nicht allzu oft begegnet in der Gegenwartsliteratur. Über Nadine zu reden, heißt über Gewalt zu reden, denn wenn Nadine nicht weiterweiß, dann schlägt sie zu. In ihrer Kindheit und später als Erwachsene. Ist ihr Vater an Nadines mangelnder Impulskontrolle, an ihrem Unglück schuld? „Ihr Vater tut mir leid“, sagt Seddig, „es ist nicht so, dass er sich nicht bemüht, aber er, der vaterlos aufwuchs, weiß nicht, wie das Vatersein geht“.
Neuer Roman „Nadine“: Psychologie als Ordnungsprinzip
Katrin Seddig ist noch viel mit den Figuren dieses neuen Buchs beschäftigt, das merkt man. Mit diesen vom Leben und von den Erfahrungen Versehrten setzt die 54-Jährige ihre große Erzählung von den Menschen fort. Sie ist übrigens, körperlich, selbst ein wenig lädiert nach einem Eingriff am Kiefer. Man könnte nun sagen, sie beiße die Zähne zusammen; oder einfach den Gedanken bemühen, dass hier eine Erzählerin mit Schmerzen über ein Buch voller Schmerzen spricht.
Seddigs Figuren sind, was ihre Psychologie und das Fundament ihrer Verhaltensweisen angeht, durchgestylt. Die Kindheit ist oft genug der Brunnen, in den man hinabsteigen muss, um Menschen zu verstehen. Daran hält sich Seddig, sie sagt: „Ich will wissen, warum eine Figur sich wie verhält, wahrscheinlich verwende ich Psychologie auch als eine Art Ordnungsprinzip“.
Katrin Seddig: Spuren des eigenen Lebens
Ihre Figuren sind vom Leben beschädigte. Und die sind nun mal interessanter als glückliche Menschen. Wobei Seddig wert auf die Feststellung legt, dass ihre Nadine keine ausschließlich unglückliche Frau ist.
Übrigens driftet das Gespräch nicht nur einmal in Richtung allgemeiner Erziehungsfragen ab, es ist gar nicht unbedingt Seddig, die den Austausch in diese Richtung lenkt. Seddigs Kinder sind aus dem Haus. Nach Jahren in Eilbek lebt sie nun in Altona, es war eine Rückkehr für die gebürtige Brandenburgerin, die schon mal hier wohnte, bevor die neue Mitte kam.
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In ihrem neuen Roman finden sich Spuren von Seddigs eigenem Leben. Sie hat bis vor ein paar Jahren selbst als Anwaltsgehilfin gearbeitet. Ein ehrenwerter, oder wie Seddig sagt: ein „dienender“ Beruf, in dem auch die Romanfigur Nadine tätig ist. Es kommt, das ist der Höhepunkt der Handlung, zu dramatischen Verwicklungen von Berufs- und Privatleben. Verraten darf man, dass was das angeht, sich der Roman weit von Seddigs Biographie entfernt.
Eine Kindheit mit Anpassungsschwierigkeiten
Nah dran am persönlichen Erleben der Autorin ist dagegen das Herummäkeln am Auftreten Nadines, auch Seddig erinnert sich, was ihre Kindheit angeht, an Anpassungsschwierigkeiten. „Meine Mutter hat mir oft gesagt, wie gehst du denn, wie sitzt du denn“, erinnert sich Seddig. Im Buch begegnet einem das wieder. Nadine ist ein Mädchen, ist eine Frau, die nicht so sein darf, wie sie vielleicht sein will. „Sie wehrt sich, aber eigentlich nie auf die richtige Weise“, sagt Seddig.
Wie war es für sie, in Anwaltskanzleien Auftragsausführende zu sein? Sie hat gut damit leben können, erklärt Seddig. Weil sie wusste: Es hat mit dem, was sie eigentlich ist, Schriftstellerin, nichts zu tun. Sicher, sie weiß, dass Altern im Büroalltag eine besonders schwere Übung sein könnte. „Ich kann mir vorstellen, dass es ein Problem ist, sich von Jüngeren etwas sagen zu lassen“, erklärt Seddig. Manchmal wundert sie sich, wie falsch Leute den Alltag der Zuarbeiterinnen (meistens sind sie ja tatsächlich weiblich) beurteilen. Kaffee machen, wirklich? Ist das heute immer noch so? „Aber natürlich, in was für einer Welt lebt ihr denn“, fragt sie ihre Bekannten dann.
Katrin Seddig ist in ihrem neuen Buch noch unbarmherziger
Ihr Brotjob ist das Arbeiten im Anwaltsbüro, wie gesagt, schon länger nicht mehr. Sie kann jetzt vom Schreiben allein leben. Sollte es irgendwann wieder nötig sein, finanziell, wird sie halt wieder dort arbeiten gehen. Sagt Katrin Seddig, die in ihrer eigentlichen Profession ob mit oder ohne Zweitberuf eine Gestalterin ist, mit weitgehenden Befugnissen. Als Autorin ist sie die Herrscherin über Figuren und Geschichten. Sie empfängt nicht, sie gibt Befehle.
Seddigs Blick auf das Mit- und Gegeneinander der Generationen ist von Roman zu Roman schärfer geworden. In ihrem 2020 erschienenen Roman „Sicherheitszone“, der von den G20-Protesten in Hamburg handelte, war der Kern des Geschehens die Familie. Im neuen Buch ist sie noch unbarmherziger, aber auf ganz eigene Weise auch zärtlich beim Betrachten ihrer Heldinnen und Helden. Einmal sagt sie und meint damit die wirkliche Welt, die den Horizont der romanhaften abgibt, dass nachfolgende Generationen oft das Gegenteil von dem verträten, was ihre Eltern vertreten hätten, „in der Erziehung macht jeder seine eigenen Fehler“.
Ihr Roman „Sicherheitszone“ handelte von G20 in Hamburg
Ihre Mutter liest alle Romane von Katrin Seddig. „Aber sie kann nicht ganz so viel mit ihnen anfangen“, berichtet die Frau, die in Hamburgs Literaturszene ziemlich gut vernetzt ist und darüber nachdenkt, kommendes Jahr eine neue Lesebühne aufzustellen. Nach ihrem ersten Roman „Runterkommen“, der 2010 erschien und seinen Figuren beim gesellschaftlichen Abrutschen zusah, zum Beispiel weil sie soffen oder weil Familien zerbrachen, fragte Seddigs Mutter ihre Tochter, was die für ein Leben führen müsse, „damit ich so etwas schreibe“. Seddig erzählt davon leicht amüsiert. Vielleicht nicht nur, weil ein Roman nicht unbedingt das wirkliche Leben abbildet.
Vielleicht passt das auch zum Thema: Diese gewisse Verständnislosigkeit zwischen der Älteren und der Jüngeren. Jede und jeder lebt ihr und sein eigenes Leben. Man muss nicht alles nachvollziehen können. Als glänzende Beobachterin von Unterschieden ist Katrin Seddig längst eine Klasse für sich.
Katrin Seddig: „Nadine“, Rowohlt, 304 Seiten, 24 Euro, erscheint am 18.4 Die „High Voltage Frühjahrslesetage“, bei denen auch Katrin Seddig liest (18.4., ausverkauft), finden vom 12. bis zum 18. April statt. Alle Infos: www.literaturhaus-hamburg.de