Katrin Seddig gewann schon den Hamburger Literaturförderpreis. Ihrem ersten Roman gab sie den prägnanten Titel “Runterkommen“.
Hamburg. Irgendwie kommt einem der vor Jahren erfundene Begriff "Alphamädchen" in den Sinn, wenn man neben Katrin Seddig auf einer Parkbank am Eilbekkanal sitzt. Eine eigenwillige Anführerin, sicher, aber eine Anführerin, mit der man auf den Baum klettern würde, sollte sie das vorschlagen. Solche Ideen hat sie jetzt aber gar nicht, und das Wort "Mädchen" in diesem Zusammenhang würde sie nicht mögen. Einmal hat jemand die Schriftstellerin als Fräuleinwunder bezeichnet. "Das geht gar nicht", so Seddig, "ich bin 40 und Mutter von zwei Kindern."
Was ist also zu tun, um nicht das abgegriffene Schild mit dem Aufdruck "Fräuleinwunder" angeheftet zu bekommen? Darf man vielleicht nicht solche Bücher schreiben wie "Runterkommen", den gerade erschienenen Debütroman der Hamburgerin? Dort geht es ganz und gar nicht um Wunder, sondern um ganz irdische Kalamitäten, in die Menschen geraten, die - wie alle - nach Liebe suchen und nach Sex. Die sich betrinken, miteinander schlafen, sich trennen, wegfahren, wiederkommen. Und Liebeskummer haben. Oder eben keinen. Seddig, die Gewinnerin des Hamburger Literaturförderpreises, die Geschichtenschreiberin, ist eine zierliche Person mit zusammengebundenen Haaren. Man kann ihren Gesichtsausdruck nicht anders als verschmitzt beschreiben. Vielleicht auch frech.
"Ich rede ja ziemlich viel", sagt sie. Und redet drauflos. Von ihrer Mutter, die entsetzt ist von ihrem Buch, in dem Seddig vom Wichsen schreibt und vom Ficken, natürlich expressis verbis. Das gefällt der Mutter nicht, wen wundert's. Seddigs Texte sind schnell und authentisch, sie geben nichts auf schöne Formulierungen. Seddig erzählt ausführlich von ihrem Stil, und sie erzählt viel von ihrer Mutter, sie lebt in Brandenburg, wo die 1969 geborene Autorin aufgewachsen ist. Dabei hat Seddig dieses Blitzen in den Augen, das man bei der Lektüre ihres tragikomischen Buchs immer mitliest und auf die Erzählerin überträgt, wenn wieder eine ihrer Pointen sitzt.
In "Runterkommen" treffen skurrile und durch den Alltag taumelnde Gestalten aufeinander, die sich ihren Bizarrerien willenlos überlassen. Erik, der nicht gern arbeitet und seinem Geschlechtstrieb freien Lauf lässt. Dani, die Unberührbare, die wie in einer Blase lebt, niemand darf sie anfassen. Tom, der immerzu heult und die Wirklichkeit nur durch verdunkelte Brillengläser ertragen kann. Margarete, die alt ist und in ihrer eigenen Welt lebt, aber der Tochter Doreen auf der Nase herumtanzt. Sie lieben und hassen sich, diese Figuren; eigentlich ganz schön traurig, das alles. Aber der Absurdität zwischenmenschlicher Beziehungen angemessen. Sie findet, sagt Seddig, dass "man doch so schreiben muss, wie man redet". Eigentlich sei alles so komisch und seltsam, und Buchsprache "ist doch total unrealistisch, vielleicht beherrsche ich sie gar nicht". Und trotzdem sind die Gags in ihrem Buch, die ironischen und bitterbösen Stellen, nicht darauf angelegt, witzig zu sein. "Ich kann das nicht leiden, wenn Scherze nur um ihrer selbst willen gemacht werden", meint sie. Sie mag Comedy überhaupt nicht, und das kann man ja auch verstehen.
Es ist ein knackiges, nur an wenigen Stellen etwas zu längliches Buch, dieses "Runterkommen", das eigentlich "Blätter und Blüten" hätte heißen sollen. Schließlich wuchert der Garten in Niendorf, der in Seddigs Geschichte eine Rolle spielt, mit seinen Gewächsen. Schöne Symbolik, denn so unordentlich der Rasen, so unbürgerlich die Verhältnisse. Zum Schluss kommt es zur Aussöhnung der Generationen, und alle leben unter einem Dach. Seddig ist alleinerziehende Mutter von zwei Kindern und arbeitet in zwei Kanzleien. Schreiben würde sie gerne mehr, aber das Geld muss ja irgendwo herkommen. Gleich ist sie mit ihrem Sohn Bruno verabredet ("Der kommt in die Pubertät und fängt an, sich zu stylen"), aber bevor sie losmuss in ihre Wohnung im fünften Stock eines verklinkerten Hauses, sagt sie noch: "Dinge bedeuten mir nicht viel. Eben habe ich eine Postkarte weggeworfen, die mir meine Mutter vor zwei Tagen geschrieben hat. Das darf sie nicht wissen."
Natürlich grinst sie. Und dass es ihr nichts bedeutet, die Romane John Updikes oder die neue Platte von Jochen Distelmeyer im Regal stehen zu haben, mag man nicht glauben. Und was hat es nun auf sich mit dem Fräuleinwunder? Vor zehn Jahren sollte mal eines heraufbeschworen werden, als Judith Hermann, Elke Naters und Sibylle Berg das literarische Feld betraten. Noch weniger Sinn hat selbiges jetzt und Seddig übrigens eine klare Vorstellung von sich selbst: "Ich bin keine Intellektuelle, obwohl ich früher immer der Bücherwurm war." Irgendwann hat sie die Mutter dann ausgesperrt, damit sie mal mit den Nachbarskindern spielt. Da ist sie wieder, die Mutter, von der sie so viel spricht und die sie mag wie ihren Vater. Über die sie den Kopf schüttelt, wie es Kinder eben nun mal tun.
Katrin Seddig: Runterkommen (Rowohlt Berlin), 383 Seiten, 19,95 Euro