Hamburg. Autor von „American Psycho“ legt ersten Roman seit 13 Jahren vor. Mit einem Serienkiller, der die Jugend in Schutt und Asche legt.
California Noir und Schauergeschichte, Teenage Angst an der Westküste, American Horror Story: All das ist, von all dem handelt der erste große Roman des Jahres. Er heißt auch in seiner deutschen Ausgabe „The Shards“ („Die Scherben/Bruchstücke“) und stammt von Bret Easton Ellis, dem weltberühmten Autor von „American Psycho“, in dem der Hedonismus und der Materialismus der Achtzigerjahre in Schutt und Asche gelegt wurden. Expliziter Sex, Drogen, ein unvorhergesehener Gewaltexzess gegossen in Literatur: Ellis wurde mit diesem berüchtigten Buch zum Literaturstar.
Es bescherte ihm das „Image des Fürsten der Finsternis“, wie Ellis in der Vorrede seines neuen und weltweit am 17. Januar erscheinenden Romans schreibt. Im Präludium eines in der deutschen Ausgabe 740 Seiten dicken Zeitlupen-Thrillers, in dem in kristalliner Genauigkeit die verstörenden Vorgänge in einer Privatschulen-Clique beschrieben werden.
Bret Easton Ellis: Ist „The Shards“ ein Memoir?
Schon auf diesen ersten Seiten öffnet Ellis die Tür zu einem faszinierenden Spiegelkabinett. Der Ellis, der, das lässt sich mit Fug und Recht behaupten, mit diesem ersten Roman nach 13 Jahren ein furioses Comeback hinlegt. Dabei spielt der 1964 in Los Angeles geborene und aufgewachsene Schriftsteller so clever wie einfach mit Versatzstücken seiner eigenen Vita und dem Blick seiner Leser. Es sei eine wahre Geschichte, die er erst 40 Jahre nach den traumatischen Vorgängen an der Buckley Prep School erzählen könne, teilt einem der Autor Bret Easton Ellis mit; bei einem Versuch einige Jahrzehnte zuvor sei er nach einer Panikattacke in der Notaufnahme gelandet. Was soll man da als Leserin oder Leser denken, das nicht mit maximaler Neugierde gleichzusetzen wäre? Allerdings ist man spätestens seit „Lunar Park“, dem 2005 erschienenen pseudo-autobiografischen Roman, auf Vorsicht gepolt.
Ellis ist mehr denn je ein Meister der Spannung, ein literarischer Trickser, der Texte mit Cliffhangern vollballert. „The Shards“ ist zuerst als von Ellis selbst eingelesene Hörbuch-Serie in seinem Podcast erschienen. Der Autor, der 2019 in seinem gegenwartsdiagnostischen Buch „Weiß“ gegen die Woke-Bewegung und die Tyrannei der Political Correctness wetterte, erklärte schon im Podcast, in „The Shards“ von tatsächlich stattgefundenen Begebenheiten zu erzählen; er habe nur die Namen der Beteiligten verändert. Außerdem äußerte er die Sorge, in hypersensiblen Zeiten wie diesen keinen Verlag für sein Buch zu finden, auch „American Psycho“ könne heute nicht mehr erscheinen.
„The Shards“: Expliziter Sex und „griechische Götter“
Nun, es hat sich bei keinem Verlag auf der Welt jemand daran gestört, dass in „The Shards“ ziemlich viel explizit beschriebener Sex vorkommt. Zum Beispiel zwischen dem 17-jährigen Bret und einem knapp 40-jährigen Filmmogul. Dieser Mann namens Terry Schaffer zerrt Bret, der mit seiner Tochter Debbie liiert ist, ins Bett. Sex mit Minderjährigen, Metoo, Skandal! Um schwule Liebe geht es permanent in „The Shards“, um den jungen, kraftsaftigen männlichen Körper, um „griechische Götter im Teenageralter“. Um Bret und seine Freunde Thom, Matt und Ryan, von denen nur Thom, zu Brets Bedauern, „auf eine sehr entschlossene Weise heterosexuell war“. Bei den Beschreibungen der ganzen jungstrotzenden Männlichkeit kann man an Don Henleys „Boys of Summer“ denken, an die makellosen Strand-Gymnasten in Schwarzweißästhetik. Hätte Ellis gekonnt, er hätte „Boys of Summer“ in seinem Roman untergebracht.
Was nicht ging, der Song stammt aus dem Jahr 1984. 1981 hörte man Peter Gabriel, Ultravox, Depeche Mode, The Cure, The Go-Gos und The Dickies, und das lässt uns der Erzähler ausführlich wissen. Don Henley spielt insofern eine Rolle, als er im Adressbuch der Romanfigur Debbie vermerkt ist; die Eagles und minderjährige Groupies, da war doch was.
Mit Porsche, BMW und Mercedes in die Schule
Aber all der Sex in „The Shards“ täuscht nicht darüber hinweg, dass die Heldinnen und Helden in diesem Roman soziale Mängelwesen sind. Vereinsamte Heranwachsende (die Plausibilität ihres angeblich altersgemäßen Habitus wirft streng genommen Fragen auf – sie verhalten sich bisweilen allzu selbstgewiss) wie Bret Ellis, dessen Eltern monatelang auf Europatrip sind, als für den 17-Jährigen das Grauen hereinbricht.
Die Überprivilegiertheit der Rich Kids, die mit Porsche, BMW und Mercedes in die Schule fahren, Ralph Lauren tragen und ihren Bewusstseinsapparat mit Quaaludes, Koks und Valium justieren, lässt sie im falschen Glauben, unverwundbar zu sein, selbst als ihr Mitschüler Matt Kellner tot aufgefunden wird. Allein Bret ist alarmiert. Fairerweise muss man sagen, dass auch nur er weiß, wie Matt aufgefunden wurde: von Hämatomen übersät, Fische im Verdauungstrakt. Seit Monaten zieht ein Serienmörder die Küste entlang, der „Trawler“. Außerdem treibt eine Sekte („Riders of the Afterlife“) ihr Unwesen – Charles-Manson-Vibes also. Massakrierte Haustiere, Anrufe, bei denen der Anrufer in die Leitung schweigt, popkulturelle Hinterlassenschaften unbekannter Absender wie ein Poster des Foreigner-Albums „4“ und Manipulationen am Interieur der eigenen Bleibe: Für Bret ist klar, dass hier eine Bedrohungslage vorliegt, die seine Peergroup im höchstem Maße betrifft.
„The Shards“: Die Rich Kids von Bel Air und Beverly Hills
Was die eigene Bleibe angeht, die unterscheidet sich in – durchaus gewichtigen! – Nuancen. Die eine ist manchmal noch viel größer als die andere, aber gleich wo man wohnt, am Mulholland Drive, in Bel Air oder Beverly Hills, man tut es feudal und immer mit Pool. Wenn bei Terry Schaffer Partys mit Mel Gibson und Jack Nicholson stattfinden, ist Hollywood-Glamour der Normalfall. So wächst man hier eben auf, wenn man zur Oberschicht gehört.
Es gelingt dem auch in „The Shards“ auf charakteristische Weise barrierefrei erzählenden Bret Easton Ellis, in episch gelängten Szenen – Dialoge erstrecken sich beinah grundsätzlich über mehrere Seiten – eine Atmosphäre aus unentrinnbarer Düsternis und Gefahr zu installieren. Selbst wenn sein Held Bret, die jüngere literarische Inkarnation seiner selbst, auf eine Filmbusinessparty geht, ist er potenziell ein Opfer der Begierden der Erwachsenen. Andererseits handelt „The Shards“ ganz entschieden von der Entdeckung der eigenen Sexualität und in Brets Falle von der Verweigerung des Coming-outs.
Der bildhübsche Robert Mallory, Rivale und begehrtes Liebesobjekt
Eine naheliegende Textdeutung ist, dass sich die Romanfigur Bret deswegen in eine Spirale der Paranoia begibt, weil ihn die offizielle Aufrechterhaltung des heterosexuellen Lebensentwurfs unter Druck und Überspannung setzt. Seine Nemesis erscheint diesem jungen Bret, der erklärtermaßen permanent „Pantomime“ spielt, in Person des bildhübschen Robert Mallory. Der ist zum letzten Schuljahr neu in der Abschlussklasse, ein Junge, der die etablierten Beziehungsverhältnisse ins Wanken bringt und als brettharter Rivale wahrgenommen wird.
Bret Ellis’ Eifersucht führt so weit, dass er sich hartnäckig an die Fersen Robert Mallorys heftet. In „The Shards“ wird auf beinah lächerliche Weise ständig durch die Stadtlandschaft gefahren. Ellis versteckt einen frühen Hinweis in der Handlung, wonach Robert eine Art Doppelgänger Brets ist. Ein Doppelgänger, den Bret gleichzeitig begehrt und bekämpft. Wie geschickt Bret Easton Ellis Zweifel an der Glaubwürdigkeit seines Ich-Erzählers sät, zeugt von großer Erzählkunst. In der letzten Kammer dieser literarischen Gruselfahrt unter der Sonne Kaliforniens schimmert extraduster eine Form von schwarzem Humor, und wenn er vor allem die Dauergeilheit Brets betrifft.
Die Privatschulszene als Brutstätte des Bösen
Dass sich durch Los Angeles, die Stadt der Reichen und Schönen, eine mörderische Spur zieht, berichtet der Erzähler gleich zu Anfang des Romans. Joe Hunt, der reale Gründer des betrügerischen Billionaire Boys Clubs, der solvente, gierige Investoren um Millionen betrog, wurde in den 80ern wegen Mordes zu 34 Jahren Haft verurteilt. Der Erzähler will Hunt bei einem Dinner kennengelernt haben, wie er sich 40 Jahre erinnert, „nichts an dem großen, gut aussehenden Joe Hunt deutete im Entferntesten darauf hin, dass er zu den Verbrechen fähig war“. Damit ist Hunt der echte Gewährsmann für das fiktive Geschehen in „The Shards“, die Privatschulszene als Brutstätte des Bösen.
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Im Verlaufe der Handlung webt der Erzähler ein Netz aus Pathos und Bedeutung. Jugend und Unschuld enden mit der übel zugerichteten Leiche Matt Kellners, der schöne Schein war eh nie einer, aber jetzt hat der Teufel Einzug gehalten. Und er rückt den Protagonisten immer mehr auf den schon ramponierten Pelz. Popperboys Paradies ist abgebrannt, als die Clique zerbricht: Der sinistre Eindringling Robert Mallory hat das Herz der eigentlich anderweitig liierten Schulschönheit erobert, und Bret verdächtigt ihn mehr denn je, für die Bluttaten verantwortlich zu sein. Dass der Roman-Bret an seinem schriftstellerischen Debüt „Less Than Zero“ (dem Roman, mit dem Ellis 1985 als 21-Jähriger ins Rampenlicht trat) arbeitet und bei seinen Freunden für dichterische Übertreibungen bekannt ist, ist eine allerschönste Metaebene.
„The Shards“: Die ultimative Hommage an Stephen King
Bret allein zu Haus, das heißt vor allem: Drogen einzuwerfen, um die Angst in den Griff zu bekommen. Vordergründig die Angst, das nächste Opfer zu sein, und, auf einer zweiten, unausgesprochenen Ebene, die Angst, er selbst zu sein. Der gestresste Bret liest Joan Didion, John Updike und vor allem Stephen King. „The Shards“ ist die ultimative Hommage an den Großmeister des Horrors. Es sind die eigenen Dämonen, die Bret verfolgen; so, wie er um Robert kreist, kreist dieser um ihn. „Der kalte Wind blies vom Pazifik herüber“, heißt es einmal; das beschreibt die Stimmung die Romans recht gut. Und entspricht außerdem in etwa dem sprachlichen Niveau: Bret Easton Ellis wäre nicht Bret Easton Ellis, würde er auf stilistisches Hochplateau zielen.
Der psychologisch durchgestylte und böse Roman „The Shards“ beerdigt den amerikanischen Traum einer schönen und heilen Jugend. Am Ende bleiben nur zerfetzte Körper. Was für ein Albtraum.