Hamburg. Der Bestsellerautor erprobt auf gewohnt großzügige Weise die Macht des Erzählens. Seinen Figuren mutet er dabei aber einiges zu.

Die Romane dieses großen Meisters des literarischen Light Entertainments schnurren stets herunter: Man gerät unversehens in sie hinein, liest ohne Pause, dann ist man wieder draußen, entlassen aus einer Welt voller Geschehnisse und Schicksale. Seit seinem Debüt „Small World“ im Jahr 1997 ist der ehemalige Werbetexter Martin Suter auf Bestseller abonniert.

Weil er unbedingt an den handlungsgetriebenen Roman glaubt. Zuletzt, mit der Fußballer-Romanbiografie „Einer von euch. Bastian Schweinsteiger“, hatte Suter einen kleinen Flop zu verkraften. Wobei viele seiner Kolleginnen und Kollegen sicher froh wären, Flops dieser Kategorie in ihrer Autorenbiografie zu haben.

Neuer Roman von Martin Suter: Held wird zum tragisch Liebenden

Mit seinem neuen Roman „Melody“ gelangt Suter, der vor kurzem 75 Jahre alt geworden ist, nun zurück zu alter Form. Dr. Peter Stotz, in einer Villa am Zürichberg lebender, dem Tode geweihter Schweiz-VIP, will die letzten Dinge für sein Nachleben regeln. Was das genau ist, weiß Tom Elmer nicht so genau. Tom ist ein junger, arbeitsloser Jurist, der wider Erwarten kein großes Erbe antrat, als sein Vater starb, und deshalb dringend Geld verdienen muss. Der als Unternehmensberater zu viel Geld gekommene, der auch als Politiker, Kulturfunktionär und Offizier in Erscheinung getretene und bekannt gewordene Dr. Stotz kann ihm ein gutes Auskommen bieten.

Dafür muss Tom nur in die Gästewohnung des Stotz-Anwesens ziehen und, gleichsam im Heimbüro, die Zeugnisse sortieren, die Stotz in seinem Leben angehäuft hat. Vieles soll in den Schredder, das Aufgehobene aus dem Stotzleben dagegen nach des Auftraggebers Willen sortiert werden – wie jeder will er dabei gut aussehen. „Das ist keine Geschichtsfälschung. Es ist Geschichtsgewichtung. Geschichte wurde seit jeher gewichtet, das wissen Sie doch“, sagt der Ü-80-Welterklärer zum deutlich jüngeren Zuhörer.

Roman „Melody“ ist eine Hommage an das Erzählen selbst

Zuhörer, darauf läuft es hinaus; Tom ist in erster Linie dafür da, dem Alten sein Ohr zu leihen. Was nicht in den Akten, Briefen und Zeitungsartikeln steht, berichtet Stotz selbst. Und da, in diesen dramatischen Erinnerungen, geht es um die schöne Melody Alaoui, die Buchhändlerin ist und mit der Stotz, so erzählt er es, einst über den „Großen Gatsby“ ins Gespräch kam. Stotz wurde dann selbst zum hochdramatisch Liebenden, und Tom erfährt durch die Erzählungen des Peter Stotz alles darüber.

Insofern ist „Melody“ eine Hommage an das Erzählen selbst. Und gleichzeitig macht der Roman deutlich, dass Erzählen immer auch Lügen ist. Oder geschmeidiger ausgedrückt: Dass Erzählen beinah immer Wahrhaftigkeit beanspruchen darf, selbst wenn es nicht um Wahrheit geht.

Originell ist jeder Roman Martin Suters

Martin Suter hat sich stets die Freiheit genommen, seine Geschichten mit scharfem Strich zu konturieren. Subtil sein kann er natürlich auch, aber das Deutliche liegt ihm besonders nah. So ist Toms Vater beispielsweise gestorben, weil er, der Hochverschuldete, aus tausend Metern Höhe in einen Ozean sprang. Ein originelles Ableben. Und diesen Touch des Originellen hat auch jeder Suter-Roman.

In „Melody“ baut Suter mit seinem sterbenskranken Tragöden um die Annahme, dass Menschen Geschichten spinnen, um ihr Leben interessanter zu machen oder dieses überhaupt erst zu bewältigen, ein Rätsel auf. Es folgt zunächst den Fragen, die sich Stotz selbst seit Jahrzehnten stellt. Warum verschwand Melody kurz vor der Hochzeit? Wurde sie, die Tochter marokkanischer Einwanderer, Opfer eines Ehrenmords? Oder lebt sie längst in Asien?

Dass in mancherlei Hinsicht alles ganz anders ist, dass der Stotz-Biograf Tom im Verlaufe der Handlung vor einem neuen Rätsel um das Rätsel, das ihm Stotz vorsetzte, steht und um die Welt reist, um dieses zu lösen, ist eh klar. Schließlich gibt es eine Suter-Formel, auf die Leserinnen und Leser sich verlassen können: Wendungen und Twists sind diesem Autor nie fremd, das macht seine Romane unvorhersehbar und das ist alles andere als Schweizer Käse.

Neuer Roman: Martin Suter unterlaufen keine Logiklöcher

Suter unterlaufen keine Logiklöcher, und er spielt die Gestaltkraft des Geschichtenerzählers auch hier sehr entschieden aus – ganz wie sein Held Peter Stotz. Schreiben, hat Suter einmal im Abendblatt-Interview gesagt, „gibt mir vor allem anderen Freiheit, es gibt mir eine gewisse Macht, nämlich die des Erzählers, der eine Welt erfindet und sie nach seinem Gusto funktionieren lässt“.

Es schmälerte das Leseerlebnis, verriete man an dieser Stelle allzu viel über den „Melody“-Plot. Mitteilen darf man aber, dass Tom, wie er einmal mit Missbehagen feststellen muss, seinen Penis nicht mehr sehen kann, wenn er den Blick auf seine Körpermitte richtet. Job und Logis bei Stotz haben ihren Preis. Ohne Unterlass werden edle Tropfen, wird Champagner oder Sherry gereicht. Aufgrund seines genussvollen Lebens hat Stotz selbst keinen Magen mehr, aber er lässt es sich nicht verdrießen. Tom, dem Suter eine Lovestory mit Stotzens Großnichte gönnt, auch nicht. Wie könnte er? Bei Flüssignahrung bleibt es ja nicht, dank der italienischen Köchin Mariella. Deren kulinarische Darreichungen („Bruschette mit gehackten Datteltomaten, Oliven, Peperoncini und verschiedenen Kräutern“ – und das ist nur eine der Vorspeisen) widmet Suter viel Platz.

Sein Stil dagegen bleibt schlank. Er ist der, für den ihn seine Leserinnen und Leser lieben.