Hamburg. Der neue Roman „Sicherheitszone“ der Schriftstellerin Katrin Seddig handelt von einer Familie – inmitten des G-20-Gipfels.
„Eine Stadt wie im Fieber, voller Bosheit und klitzekleiner Feuer“: Das ist Hamburg. Das Hamburg der hitzigen Julitage des Jahres 2017, als es beim Treffen der Mächtigen der Welt, der Staatenlenker und ihren Entouragen, so brannte wie nie vorher in der jüngeren Geschichte der Stadt.
Als sich Fronten eröffneten und auf den Straßen Krieg herrschte. So fühlte es sich zeitweilig für manche jedenfalls an. In Hamburg standen sich Staat und Aufständische, Einheimische und Angereiste, Polizei und „Schwarzer Block“ gegenüber. Die einen plünderten, die anderen prügelten, und über allen lärmten die Rotoren der Hubschrauber. Tag und Nacht. Es war der Gipfel der urbanen Überreizung. Willkommen in der Hölle.
Helikopterwahnsinn und gesperrte Straßen
Der zitierte Satz mit den Feuern und der Bosheit stammt aus dem Hamburg-Roman des Jahres. Aus Katrin Seddigs „Sicherheitszone“, dem Buch, in dem Figuren der Literatur genau das bewältigen müssen, was den Hamburgern vor drei Jahren widerfuhr. Da ist zum Beispiel Thomas Koschmieder, Familienvater aus Marienthal und Inhaber eines Möbel- und Antiquitätengeschäfts, der schon tagsüber genug hat vom Ausnahmezustand.
Dem Helikopterwahnsinn, den gesperrten Straßen, der allgegenwärtigen Polizei, den Einschränkungen, dem Genervtsein. Thomas ist auf der Suche nach seinem Mitarbeiter, der nicht zur Arbeit erschienen ist. Er trifft ihn nicht an. Später wird er herausfinden, was mit Ludger geschehen ist, der in den G-20-Verwerfungen sein ganz eigenes Schicksal zu bewältigen hatte. Und später wird auch Thomas eine schicksalhafte Begegnung haben, mit einer, das sei verraten, Dose Pfefferspray. Da wird er die Haltung zu dem, was in seiner Stadt vorgeht, grundlegend überdenken; er wird sein ganzes Leben überdenken.
Bürger, der die Eskalation gedanklich vorwegnimmt
Jetzt, am Tag vor jener dramatischen Nacht, ist Thomas bereits erhitzt von den Zumutungen. Er „verschluckt sich an dieser gespannten und heißen Luft“. Er „hat die Schnauze voll“, er „hat es satt“, „wegen ihm kann es ruhig knallen, richtig knallen“.
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Ein Hamburger Bürger, der die Eskalation gedanklich vorwegnimmt. Einer, der lange nicht weiß, auf welcher Seite er steht, der erst einmal gar nicht einsieht, dass er überhaupt einen Standpunkt beziehen muss. In seiner Familie ist das anders. Sein Sohn Alexander ist Polizist, seine Tochter Imke (17) ist Teil einer Aktivistengruppe. Seine Frau Natascha beteiligt sich an einer gesellschaftskritischen Kunstperformance. G20 als Familienroman: Nichts weniger als das wollte die Schriftstellerin Katrin Seddig („Runterkommen“, „Eheroman“), die seit Jahrzehnten in Hamburg lebt, mit ihrem fünften Buch vorlegen. Es ist ihr hervorragend gelungen.
Tableau der Wiedererkennung
Dabei breitet sie vor Leserin und Leser ein Tableau der Wiedererkennbarkeit aus. Der zweite Teil dieses Buchs, auf dessen Cover Explosionen zu sehen sind, die seinen Titel hochsymbolisch Lügen strafen, ist eine Parallelmontage der
G-20-Erlebnisse der Protagonisten und gleichzeitig eine Zusammenfassung der Krawalltage, in der die zumal in Hamburg sattsam bekannten Geschehnisse wie düstere Memory-Karten aufklappen.
Das geräumte Protestcamp in Entenwerder, der aus dem Ruder gelaufene Polizeieinsatz bei der Demo „Welcome to Hell“, der Mob, der durch Altona zog, die Scherbennacht in der Schanze, das Eliten-Konzert in der Elbphilharmonie – all das kommt hier vor. Die im Zusammenhang mit G20 mal mehr, mal weniger kritisierten Auftritte von Hamburgs Erstem Bürgermeister, von dessen Innensenator und dem Chef der Polizeieinsätze haben implizit Eingang in den Roman gefunden. Scholz, Grote und Dudde als buchstäbliche Realitätsmarker: „Sicherheitszone“ hat auch Geschichtsbuchcharakter. Aber nur ein wenig.
G20 nur außeralltägliche Kulisse
Denn vor allem ist dies ein typischer Seddig-Roman. Nicht nur im ersten Teil, der einige Monate vor dem Juli 2017 spielt und in dem die Autorin ihre Helden und deren Dispositionen einführt. Seddig, die gerne im dramatischen Präsens erzählt, zoomt ebenso gerne nah an ihre Figuren heran. Auch diesmal setzt sie ihre literarischen Mittel aufwendig dafür ein, dass sich der Leser den Konflikten der Figuren nicht entziehen kann.
Für Thomas, der die Familie verlassen hat, um in die Einliegerwohnung auf der Garage zu ziehen, und eine Affäre mit der Lehrerin seiner Tochter hat, für seine Frau Natascha, die sich ihrerseits sexuell neu orientiert, für den adoptierten Sohn Alexander, der mit seinem Beruf als Polizist und seiner Liebe zu Männern ringt, oder für Imke, die im Abnabelungsprozess steckt, stellen sich mit einem Mal in den Alltag drängende Fragen, für die die G-20-Geschehnisse gewissermaßen nur eine außeralltägliche Kulisse sind.
Oma Helga übrigens, deren Weisheiten („Der Mann hat einen starken Trieb. Die Frau kann sich beherrschen“) vollends aus der Zeit gefallen sind, ist erzählökonomisch etwas überrepräsentiert. Darüber hinaus gibt Seddig diesem ohnehin durchaus dicken Buch grundsätzlich eine Tiefe, die mit der ausbuchstabierten Herkunft ihrer Figuren zu tun hat. Für jene Lebensgeschichten sind Abzweigungen erlaubt. Warum jemand so ist, wie er ist: Dem versucht die Menschenkennerin Seddig stets auf den Grund zu gehen. Und bei dieser Suche gelingen ihr manch eindrückliche, immer dialoggesättigte Szenen. Wie herrlich ist diejenige im Museum, in dem Natascha als Guide arbeitet – hier wird beinah alles übers Wesen der Pubertät gesagt, was es zu sagen gibt.
Dieser Roman verweigert klare Antworten
Seddigs Figuren sind grundsätzlich Zweifelnde. Was dem Thema zuträglich ist, denn gedankliche Eindimensionalität wäre im Hinblick auf die G-20-Problematik wenig sympathisch. Dies ist insofern ein politisches Buch, als sich seine Figuren (wie wir alle, im echten Leben) fragen müssen, wie weit man gehen darf. Seddig bemüht sich, alle Seiten zu beleuchten. „Die Frage ist doch: Woher kommt der Hass?“ – „Die Frage ist: Ist er berechtigt?“: Klare Antworten darauf vermögen die beiden Romanfiguren, die sich das Geschehen in der Schanze von der Beobachterposition anschauen, nicht zu geben. Das gesamte Buch verweigert diese klaren Antworten, und doch bezieht es am Ende Position.
Katrin Seddigs ambitionierter und intensiver Roman „Sicherheitszone“ ist eine Einladung zur abermaligen Diskussion. Es ist das Buch, über das man in Hamburg reden wird.
Buchvorstellung am 26.8. im Literaturhaus, die Veranstaltung ist ausverkauft.