Hamburg. Bachs Matthäus-Passion in der Elbphilharmonie – eine fesselnde Aufführung mit dichtem Spannungsbogen und berückenden Momenten.
Einerseits den Klangvorstellungen des Komponisten und seiner Zeit möglichst nahekommen und andererseits die Menschen von heute berühren: diesen Spagat hinzukriegen, ist die anspruchsvolle Aufgabe für alle Künstlerinnen und Künstler der Klassik, insbesondere im Bereich der „Alten Musik“.
Eine Aufgabe, die die Interpretation von Bachs Matthäus-Passion in der Elbphilharmonie beeindruckend und teilweise beglückend gelöst hat. Das Vokalensemble Vox Luminis und das Freiburger Barockorchester singen und spielen in der zu Bachs Zeit üblichen Besetzung, mit schlankem Klang und auf den damals gebräuchlichen Instrumenten. Das ist die Grundlage für den transparenten, sprechenden Ansatz. Aber die Aufführung wirkt eben nicht bloß stilsicher oder historisch „korrekt“, sondern lebendig. Sie erzählt die Leidensgeschichte Jesu so, dass sich auch nicht-religiöse Hörerinnen und Hörer ergreifen lassen können.
Bei dieser Matthäus-Passion trifft der schlichte Ton direkt ins Herz
Das gelingt besonders eindringlich in den Chorälen, mit denen Bach die Perspektive der Gemeinde einnimmt. In der zweiten Strophe von „O Haupt voll Blut und Wunden“ – ganz innig und leise gesungen – ist ein tiefes Mitleid mit dem schuldlos gefolterten Jesus zu spüren. Der schlichte Ton trifft direkt ins Herz.
Wie die Mitglieder von Vokalensemble und Orchester hier zusammen atmen und gestalten, offenbart die kammermusikalische Intimität, die den ganzen Abend prägt. Er kommt ohne Dirigenten aus. Der Leiter Lionel Meunier – als Bass hinten im Chor stehend – und die Konzertmeisterin Petra Müllejans – vorn, leicht erhöht, auf einem Podest sitzend – halten Blickkontakt und installieren so eine optische Orientierungsachse. Vor allem aber musizieren alle mit höchster Sensibilität. Phänomenal, wie gut die rund 60 Mitwirkenden aufeinander abgestimmt sind, obwohl die beiden Teilchöre recht weit auseinander stehen.
Im Orchester zaubern vor allem die Streicherinnen und Streicher
Hier und da hat der Verzicht auf einen Dirigenten oder eine Dirigentin allerdings auch seine Nachteile. Weil eine ordnende Hand fehlt, die während des Konzerts Details nachregeln kann. Etwa in der Balance, wenn die Oboen das wunderbar zarte Timbre der Sopranistin Viola Blache überdecken. Oder wenn die Musik auf der Stelle zu stehen droht, wie in der Arie „Können Tränen meiner Wangen“. Da hätte ein Energieimpuls von außen vielleicht geholfen.
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Insgesamt fesselt die Aufführung trotzdem mit ihrem dichten Spannungsbogen und vielen berückenden Momenten. Im Orchester zaubern vor allem die Streicherinnen und Streicher; das Vokalensemble besticht mit einem breiten Ausdrucksspektrum. Es reicht von der innigen Stimmung in den Chorälen bis zur geifernden Schärfe des Lynchmobs („Kreuzige, Kreuzige!“). Das Topniveau von Vox Luminis zeigt sich auch im Auftritt der starken Solistinnen und Solisten, die alle – mit Ausnahme des Evangelisten Raphael Höhn – aus dem Ensemble besetzt sind. Herausragend: der junge Altus Alexander Chance – und der Bariton Sebastian Myrus als anrührend menschlicher und nahbarer Jesus.