Hamburg . Rameaus „Hippolyte et Aricie“ wurde unter der Leitung von Sir Simon Rattle zu einem überwältigendem Erlebnis.
Budgetzwänge sind keine Erfindung unserer Zeit. Barockopern sind häufig für winzige Instrumental-Ensembles geschrieben worden. Wie oft ist das in der Reihe „Das Alte Werk“ zu erleben gewesen: eine Hand voll Streicher, Cembalo, mit Glück Flöten oder Oboen, fertig. Und dann kommt Simon Rattle in die Elbphilharmonie und bringt das Freiburger Barockorchester in XXL-Besetzung mit.
„Hippolyte et Aricie“ von Jean Philippe Rameau ist schließlich 1733 an der Académie royale de musique in Paris herausgekommen. Die französische Hauptstadt war damals das Zentrum der musikalischen Welt, da ließ man sich nicht lumpen. Allein die tiefen Streicher achtfach besetzt, vier Flöten, vier Oboen, vier Fagotte, Hörner, Trompeten, Schlagwerk, mon dieu!
In Hamburg ohne Bühnenbild und Kostüme
Das Stück war der Opernerstling des damals bereits 50 Jahre alten Komponisten. Seine Uraufführung provozierte einen der spektakulärsten Kräche der Operngeschichte. Rameaus kühne Neuerungen brachten die konservativen Anhänger des Platzhirschen Jean-Baptiste Lully auf. Die nannten seine Musik schlicht Lärm. Die „Ramisten“, also Rameaus Anhänger, waren dagegen damals schon begeistert von dem Reichtum an Modulationen und Dissonanzen.
So begeistert wie das Publikum der Hamburger Aufführung. Die Produktion läuft zurzeit an der Berliner Staatsoper Unter den Linden und hat für ihren Ausflug nach Hamburg Bühnenbild und Kostüme dagelassen. Aber auch konzertant, fast völlig ohne szenisches Geschehen, in einer fremden Sprache und mit einer komplex verschachtelten mythologischen Handlung halten Rattle und die Seinen den Großen Saal über drei Stunden unter einer Spannung, wie sie dort keine Selbstverständlichkeit ist.
Sopranistin Anna Prohaska singt die Aricie
Atemlos lauschen die Besucher, wenn die Mezzosopranistin Magdalena Kozená in die seelischen Abgründe der Phèdre lotet. Die Ehefrau des Königs Thésée begehrt ihren Stiefsohn Hippolyte, aber der liebt dummerweise Aricie. Phèdre gibt jedoch nicht auf. Selbst die Liebesgöttin will sie in einen Kuhhandel verwickeln, um sich den jungen Mann gefügig zu machen. Nicht sehr sympathisch, das alles, aber Rameau und sein Librettist Simon-Joseph Pellegrin werfen einen derart persönlichen Blick auf die Figur, dass deren innere Konflikte den Hörer einfach nicht kalt lassen können. Schon gar nicht, wenn eine Ausdruckskünstlerin wie Kozená sich der kunstvoll gesponnen Melodielinien annimmt, plötzlich jäh innehält oder die Stimme abdunkelt. Jeder Zoll eine Verzweifelte, von der eigenen Eifersucht Überwältigte.
Ganze 15 Sänger sind dabei, viele gehören zum Ensemble der Berliner Staatsoper. Deren frühere Kollegin, die international gefeierte Sopranistin Anna Prohaska, singt die Aricie. Rein stimmlich ist der Abend ein großes Fest. Allerdings kommen nicht alle gleichermaßen mit dem spezifisch französischen Phrasenbau zurecht, wirken die Verzierungen bei einigen delikat und organisch und bei anderen etwas buchstabiert. Erfreulich stilsicher singt der Chor der Staatsoper Unter den Linden Berlin, wenn auch die Tongebung nicht immer ganz homogen ausfällt.
Sein Dirigat beschränkt sich oft auf den musikalischen Gestus
Der junge Tenor Reinoud van Mechelen entfaltet die Partie des Hippolyte zu immer größerer emotionaler Dichte. Faszinierende Charakterdarstellungen gelingen dem Bass Peter Rose als raubeinigem Pluto und dem Bariton Gyula Orendt. Der folgt dem Thésée in die private Hölle, die ihm die Parzen vorausgesagt haben, als er dem Hades entkam. Rameau bildet die Empfindungen dieses gekränkten, aber auch brutalen Mannes in allen Facetten ab, von Fassungslosigkeit über Melancholie bis Wut. Extreme Seelenzustände sind nichts Monolithisches, scheint die Musik sagen zu wollen mit ihren Farbwechseln und ihren immer wieder verstörenden rhythmischen Attacken.
Und Rattle? Der klinkt sich immer wieder aus dem Geschehen aus und überlässt den Sängern und dem Continuo die Gestaltung der dialogischen Passagen und oft auch der Arien. Nur wenn die Entfernung zwischen Flöten und Fagotten die Abstimmung gefährdet, greift er moderierend ein. Sein Dirigat beschränkt sich oft auf den musikalischen Gestus. Den Rhythmus kann das Freiburger Barockorchester schon selbst. Und nicht nur den. Es ist spürbar, wie wohl sich die Musiker in der transparenten, silbrigen Akustik fühlen. Wie aus einem Atem bilden die Geigen ihre Phrasen, und auch die besagten vierfach besetzten Bläser spielen nicht nur perfekt zusammen, sie produzieren zugleich ganz eigene Klangfarben.
So überwältigend vielgestaltig ist dieser Abend, dass sich vor dem inneren Auge von ganz allein die Pracht eines Pariser Opernabends entfaltet. Wer braucht da noch ein Bühnenbild?