Hamburg. „The Educational Web“ zeigt, wie Künstlerinnen und Künstler weltweit jenseits etablierter Institutionen lernen und arbeiten.
Wie werden Künstlerinnen und Künstler heute ausgebildet, wie vernetzen sie sich, wie kommen sie in die Arbeitswelt hinein? Eine Antwort lautet: Nicht mehr nur über die etablierten Akademien. Vielmehr trotzen viele junge Kreative einer zunehmenden Zentralisierung von geopolitischer Macht und Elitenbildung und stellen traditionelle, institutionelle Bildungsstrukturen infrage.
Teilhabe, Voneinanderlernen, Zirkulation von Wissen – dafür stehen Schulen, Bildungseinrichtungen und freie Studiengänge, die sich von der Akademie distanzieren und eine neue Akademie gründen. Acht Projekte stellt der Kunstverein in Hamburg in der Ausstellung „The Educational Web“ vor. Es ist die erste Schau, die unter der Ägide des neuen Direktors Milan Ther entstanden ist.
„Ich hatte die Idee während einer Reise nach Beirut, bei der ich über historische, emanzipatorische Journale las, und ich fragte mich: Was sind Bündnisse heute in der Kunst, in der Wissensproduktion stattfindet und die von Anfang an von Kuratorinnen und Kuratoren mit einer besonderen Mission geleitet werden? Spannend war für mich die Dringlichkeit, die hinter solch einer Programmatik steckt“, so Ther.
„The Educational Web“ im Kunstverein: Ausstellung weniger fürs Auge als für den Kopf
In dem Zuge war auch eine andere Lektüre wegweisend: Auf Basis der Veröffentlichung „Deschooling Society“ (1971) des österreichisch-amerikanischen Theoretikers und Pädagogen Ivan Illich zielt „The Educational Web“ darauf ab, einen Dialog zwischen Kunst und den ihr zugrundeliegenden lehrenden und pädagogischen Praktiken herzustellen.
„The Educational Web“ zieht das Publikum mitten hinein in diese vielfältigen, lokal geprägten Praktiken, was bedingt, dass man sich mit ihnen auseinandersetzt. Es ist weniger eine Ausstellung fürs Auge denn für den Kopf, könnte man sagen.
In seinem Versuch, die Lücke zwischen gelebter Erfahrung und Theorie zu schließen, schlug Illich ein Bildungsmodell vor, das darauf abzielt, Netzwerke der Macht zu durchbrechen und längst veraltete historische Inhalte aus den Lehrplänen zu entfernen. Somit sollte der Schwerpunkt auf unmittelbares Wissen und dessen Produktion im sozialen Leben von Gemeinschaften gelegt werden.
Ohne Schuhe betritt man einen ganz eigenen kulturellen Kosmos
Darauf, wie wichtig es ist, dass Wissen und Erfahrungen stetig zirkulieren, um künstlerische Prozesse voranzubringen, macht der nicht kommerzielle Kulturverein Maumaus aus Lissabon mit dem Aufstellen von Pappkartons, die über die gesamte Ausstellungsfläche im Erdgeschoss verteilt sind, aufmerksam – als Parallele zur weltweiten Warenzirkulation.
Im ersten Stockwerk betritt man mit dem Reading Room des Raw Material Company Center for Art aus Dakar auch einen eigenen kulturellen Kosmos. Ohne Schuhe setzen sich die Besucherinnen und Besucher auf Kissen und tauchen anhand von Texten und Videos in die Werdegänge und Perspektiven unterschiedlicher, auf der ganzen Welt tätiger Akteurinnen und Akteure ein.
Die Installation ist als geselliger Raum gedacht, der Austausch und Reflexion ermöglicht, aber auch das Durchatmen erlaubt – Inhalte, für die Raw insgesamt steht. Dem gegenüber ist die Arbeit von Ibrahim Mahama als Beitrag des Savannah Center for Contemporary Art in Tamale aufgebaut: „Parliament of Ghosts“ (2019) besteht aus 78 Sitzen, die aus ghanaischen Eisenbahnwaggons stammen.
Kunst zielt auf Englands Rolle in Ghanas Kolonialgeschichte ab
Das raumfüllende Werk bezieht sich auf die Geschichte des Schienennetzes, seine Ursprünge im Kolonialhandel mit Mineralien, Kakao und Arbeitskräften und auf seinen Gebrauch als Fortbewegungsmittel und Mittel der sozialen Verbindung. Und schließlich verweist die an die Sitzordnung des Westminster-Parlaments angelehnte Bestuhlung auf Englands Rolle in der Kolonialgeschichte des Landes.
Die Beweggründe, warum neue Wissensorte entstehen, sind vielfältig. Sie können initiiert werden durch ein Wegfallen von Ausstellungsräumen und künstlerischen Archiven wie etwa in Ägypten seit der Revolution von 2011, woraufhin sich Mass Alexandria, ein Förder- und Austauschprogramm mit Gruppenausstellungen für junge Künstlerinnen und Künstler, nicht nur aus Ägypten, sondern international, gründete.
Sie können, wie im Fall des Berlin Program for artists (BPA), auf eine offensichtliche Leerstelle zielen, die von öffentlichen Institutionen nur unzureichend geschlossen wird. In dem Fall überbrückt BPA die Phase zwischen Hochschule und künstlerischer Tätigkeit durch ein generationenübergreifendes Austauschprogramm, bei dem sich unter anderem Calla Henkel, Max Pitegoff und Wolfgang Tillmans engagieren und das jeweils am Ende eines Förderjahres eine Gruppenausstellung mit allen teilnehmenden Künstlerinnen und Künstlern organisiert.
Agency ist ein auf die Zukunft gerichtetes Projekt
Die Chto Delat School of Emergencies in St. Petersburg arbeitete traditionell mit vielen ukrainischen Kreativen zusammen; seit Kriegsausbruch 2022 existiert sie nicht mehr, sondern ist eine „umherschweifende Struktur der Schule der Notfälle“, geworden, so die Mentoren. „Unser Zuhause bauen wir dort auf, wo wir gerade sind, wo unsere Betten stehen.“
Und tatsächlich stehen im Kunstverein mehrere einfache Metallbetten neben- und aufeinander. Darauf liegen Decken mit den Konterfeis „queerer toter Lehrer:innen“, ein Projekt, das 2016 gestartet wurde – als ein „machtvolles Werkzeug, um gemeinsame Träume und Solidarität herzustellen“. Und nicht nur zurück, sondern irgendwann auch wieder nach vorn zu blicken.
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Ein Projekt, das ausschließlich auf die Zukunft gerichtet ist, nennt sich Agency. In der Ausstellung ist die Initiative, die ab 2024 jungen Künstlerinnen und Künstlern ein einjähriges Programm bietet, bei dem sie für die Teilnahme und nicht für Ergebnisse bezahlt werden, lediglich mit einem riesigen schwarzen Schriftzug auf einer freien weißen Wand vertreten.
Agency finanziert sich durch die Umverteilung von Produktionsbudgets aus der Ausstellung von 2023 sowie über Sachleistungen und Partnerorganisationen wie den Kunstverein in Hamburg. Ein kluger Schachzug von Milan Ther, sich hier zu engagieren und auch die anderen Einrichtungen zu sich einzuladen. Denn auf diese Weise spielt das Ausstellungshaus mit im großen, weltweiten Educational Web.
„The Educational Web“ bis 6.8., Kunstverein in Hamburg (U Steinstraße), Klosterwall 23, Di–So 12.00–18.00, Eintritt 5,-/3,- (erm.), www.kunstverein.de. 15.4., 12.00–18.00, „Education which lost its home“, Performance und Workshop organisiert von Chto Delat School of Emergencies.