Hamburg. Weiblich und inhaltlicher: Auch in der Kunstszene findet gerade eine Zeitenwende statt. Die Ausstellung „Young Ones“ gibt einen Überblick.

Die opulent angelegte Re­trospektive 2007 in der Hamburger Kunsthalle über den damals gerade 45 Jahre alten Daniel Richter – unvergessen (ebenso sein Abgang drei Jahre später in die Hauptstadt aus Ärger über die Hamburger Kulturpolitik). Jonathan Meeses Skandalkunst und die darüber geführten Interviews, oft in Anwesenheit seiner Mutter – herrlich schräg.

Oder John Bock, der in seinen Werken zwischen Kostümkunst, Installation und Happening die Absurdität der Dinge feiert – Zitat: „Ich knete Knöpfe und verschenke sie, ein ruhiges Laissez-faire.“

Vier hochtalentierte Künstler stehen in den Startlöchern

Die Verrücktheiten dieser schillernden wie talentierten Künstlerpersönlichkeiten, die mit Neo Rauch in einem Atemzug als bedeutendste Künstler der Gegenwart genannt werden, prägten die Hamburger Kunstszene der 1980er- und 90er-Jahre maßgeblich – und wirken bis heute nach. Aber was kam eigentlich danach aus der Hansestadt an junger, erfolgreicher Kunst? Wo sind die neuen, großen Namen?

Ein Besuch der Ausstellung „Young Ones“ in der Galerie Herold an den Colonnaden gibt einen aktuellen Überblick: Daniel Hörner kreiert raffinierte Farbspektren, die wie ein Verschmelzen von Meer und Himmel wirken, Henning Kles bespielt einen Raum mit seinen abstrakten Porträts, die sich aus Kubismus, Popkultur oder Surrealismus speisen; daneben ist Simon Hehemann ausgestellt – ein im Bereich der Installation außergewöhnlicher Künstler. Und da wäre noch Janus Hochgesand mit seinen großformatigen, farbgewaltigen „High Intensity Paintings“.

Eigenwerbung über Social Media

Hörner, Kles, Hehemann, Hochgesand – alle vier hochtalentierte und Erfolg versprechende Künstler. Aber werden ihre Namen auch außerhalb des Kunstbetriebs bekannt werden, so wie die ihrer berühmten Vorgänger? Und wie kam es überhaupt, dass Richter, Meese und Co. zu derartigen Ausnahmekünstlern werden konnten?

Glaubt man Patrick Herold, der gemeinsam mit seiner Schwester Katharina die nächste Generation in der traditionsreichen Galerie an den Colonnaden mit den Schwerpunkten Impressionismus, Expressionismus und zeitgenössische Kunst vertritt und mit den „Young Ones“ einen Ankerpunkt setzen will, hat sich die Vermarktung von Künstlerinnen und Künstlern seit einigen Jahren stark gewandelt: „Sie ist durch Instagram, Artsy und Co. demokratischer geworden, die meisten Künstlerinnen und Künstler können so selbst für sich Werbung machen. Die Galerie, die für Messebesuche, Ausstellungen und Katalogproduktio­nen verantwortlich ist, ist heute längst nicht mehr der einzige Weg.“

Netzwerkpflege und eine engagierte Galerie

Dennoch: Um die richtigen Sammler und Museumskuratoren zu erreichen, bedarf es der ständigen Arbeit eines gut vernetzten Galeristen. Das Internet schafft allerdings auch einen Kontrapunkt für die Künstlerinnen und Künstler: Die Konkurrenz ist extrem groß geworden, denn der Kunstmarkt wurde durch das Netz globalisiert. Komplett ohne engagierte Galerie geht es also nicht.

Dabei seien nur die wenigsten Galeristinnen und Galeristen in der Lage, durch die richtigen Kontakte und finanzielles Engagement eine Künstlerin oder einen Künstler international bekannt zu machen. David Zwirner, Larry Gagosian, Thaddaeus Ropac oder Johann König etwa. Letzterer veranstaltete im vergangenen Jahr sogar seine eigene Kunstmesse in Berlin – mit Erfolg, wie man hört.

Postkolonialismus ebenso wichtig wie Teilhabe und Nachhaltigkeit

An die Zeiten, in denen man sich auf einzelne Künstler und ihr Werk konzen­trierte, diese als Stars aufbaute und vermarktete, erinnert sich Martin Köttering und betrachtet die Zeit mit einiger Distanz. Der Präsident der Hochschule für bildende Künste Hamburg (HfbK), der in diesem Jahr sein 20. Dienstjubiläum feiert, arbeitete bis 1992 als kuratorischer Assistent bei der documenta.

Seine letzte, die documenta 9, war eine Art Zäsur, denn: „Mitte der 1990er-Jahre setzte ein Wandel ein; der insgesamt mit einer Verschiebung in der Wahrnehmung von und der Auseinandersetzung mit bildender Kunst zusammenhängt, der sich auch an den wichtigen Museen abzeichnet: Da verabschiedet man sich immer mehr von der Idee einer rein konsumistischen Blockbuster-Kultur als alleinigem Erfolgsversprechen.“ Stattdessen seien Themen wie Postkolonialismus oder der Einfluss des Menschen auf die Welt wichtig geworden, ebenso wie Fragestellungen zu Teilhabe und Nachhaltigkeit. Heute unter anderem stark gefördert vom Hamburger Kultursenator.

Immer mehr erfolgreiche Frauen im Kunstbetrieb

In diesem Zusammenhang habe auch der fast patriarchalisch anmutende, von Kunstmuseen, Galerien, Kritikern und Medien betriebene Starkult hauptsächlich um männliche Künstler aufgehört. Heute sind auffallend viele Frauen im Kunstbetrieb sehr erfolgreich: Angefangen bei Ulla von Brandenburg, Annette Kelm, Nicole Wermers und Annika Kahrs bis zu Newcomerinnen wie Sung Tieu. Die 1987 in Vietnam Geborene hatte bereits eine Ausstellung im Hamburger Bahnhof in Berlin und auf der Biennale in São Paulo und war für den Preis der Nationalgalerie Berlin 2021 nominiert. Julia Phillips, 1985 in Hamburg geboren, zeigt ihre Arbeit „Bower“ bei der laufenden Kunstbiennale in Venedig und erhielt 2021 den Lichtwark-Preis; aktuell hat sie eine Gastdozentur an der Universität in Chicago.

Diese Namen seien für seine Generation von Kunstinteressierten noch nicht so „schillernd in Erscheinung getreten“, sagt Köttering, was einerseits mit der Sozialisation zusammenhänge und andererseits mit einer ganz anderen Selbstinszenierung dieser Künstlerinnen.

Stärkerer Fokus auf Inhalt

„Dabei geht es viel stärker um inhaltliche Themen als um Persönlichkeit. Die junge Künstlergeneration will sich nicht über etwaige Zuschreibungen wie besonders laut, schrill oder schräg definieren. Und ist trotzdem ökonomisch äußerst erfolgreich. Sie geht viel bewusster mit ihrer öffentlichen Rolle um. Der Erfolgsbegriff ist heute ein völlig anderer: Das Ziel ist nicht mehr, ein Star zu werden oder einfach nur reich zu sein. Genauso wenig wollen Kreative als Blockbuster in Erscheinung treten, sondern für ihre Inhalte einstehen.“

Sehr erfreulich sei es, dass Museen wie das Museum für Kunst und Gewerbe (MK&G) und die Hamburger Kunsthalle verstärkt auf diesen Nachwuchs setzen, ihn ausstellen, fördern, Werke ankaufen und somit eine kulturelle Nachhaltigkeit erzeugen. Aber auch im MARKK und in den historischen Museen der Stadt sei dieser Wandel spürbar.

Andere Stimmen hörbar machen

Wenn man Milan Ther, dem neuen Direktor am Kunstverein zuhöre, wenn er über Kunst spricht, „dann geht es nicht mehr um Namedropping und Stars. Es geht darum, andere Stimmen hörbar zu machen. Dadurch entstehen andere Diskurse, ein anderes Bewusstsein und auch eine andere Wertigkeit von Kunst.“

Es ist ein Generationswechsel, der gerade zu erleben ist – äußerst spannend, auch abzulesen an der diesjährigen Biennale in Venedig, bei der 80 Prozent der Ausstellenden weiblich sind. Oder an der im Juni startenden documenta, die das Kollektiv in den Vordergrund stellt. „Die Weltaneignung von Künstlerinnen und Künstlern ist für die gesellschaftliche Entwicklung ex­trem wichtig“, so Köttering.

Neue Tendenz – Künstler ohne westlichen Hintergrund

Er erwähnt in diesem Zusammenhang etwa Talya Feldman, die 1990 als Jüdin in den USA geboren wurde. Sie war 2019 in der Synagoge in Halle, als der Anschlag verübt wurde und verarbeitete dieses Erlebnis in ihrem Werk „After Halle“. Feldman wurde bereits im Kunstverein Hamburg und im Jüdischen Museum Frankfurt ausgestellt, sie erhält den Berenberg Kunstpreis 2022 und wird seit Kurzem von der Hamburger Galerie Vera Munro vertreten.

Ganz stark sei auch die Tendenz zu spüren, Künstlerinnen zu fördern, die einen nichtwestlichen Hintergrund haben und einen anderen Blick etwa auf koloniale Aspekte werfen. Dazu gehört Leyla Yenirce, 1992 als Kurdin in der Türkei geboren. Sie erhält den Ars Viva Prize 2023 und wird demnächst eine Einzelausstellung im Kunsthaus Hamburg haben. Yenirce ist auch als Performerin und Musikerin sowie Autorin des „Missy Magazines“ tätig.

Mit allen Gattungen an der HfbK vernetzt

Künstlerinnen und Künstler aus ganz Deutschland zieht es nach Hamburg, um hier zu studieren und zu arbeiten. Und an der HfbK kommt mittlerweile sogar die Hälfte der Studierenden aus dem Ausland. Ein großes Plus der Hochschule ist, dass es seit 2007/08 nur einen Studiengang, nämlich die bildende Kunst mit verschiedenen Departments wie Fotografie, Bühnenraum oder Malerei, gibt.

Dadurch sind die Studierenden schon sehr früh mit allen Gattungen vernetzt und können während ihrer Ausbildung wechseln, sich individuell entfalten. Das hat zu einer hohen Erfolgsquote geführt – anders als noch in den 1980er-Jahren, als laut Köttering schon früh im Studium „brutal ausgesiebt“ wurde, sodass oft weniger als die Hälfte der Studierenden eines Jahrgangs überhaupt einen Abschluss machte. „Die heutigen Kunststudierenden zeichnen sich dadurch aus, dass die meisten von ihnen fokussierter als frühere Generationen arbeiten, auf große Ausstellungen hinarbeiten, sich gezielt Förderung suchen und untereinander vernetzen.“

Neue Hamburger Kunststars – große Kunstmesse fehlt

Neu eingeführt wurde ein umfangreiches Angebot zum Thema Professionalisierung, das die Studierenden bis zu drei Jahre nach dem Studium auf dem Weg ins Berufsleben begleitet. Laut einer Umfrage zusammen mit der Universität Hamburg gaben 66 Prozent der Absolventinnen und Absolventen an, dass sie im künstlerischen Bereich tätig sind und davon leben können – von wegen brotlose Kunst.

Dass Hamburg heute ein so attraktiver Standort für Kreative ist, ist neben der Hochschule und Orten wie etwa dem Kunsthaus Hamburg, das stark auf Regionalität und Nachwuchs setzt, der Kulturbehörde zu verdanken, die die Künstlerinnen und Künstler mit Stipendien unterstützt. Besonders während der Pandemie sei es Carsten Brosda gelungen, eine Menge Geld für die künstlerische Förderung aufzubringen, lobt der HfbK-Präsident.

Die Auffassung, dass jede Künstlerin und jeder Künstler, der es zu was bringen will, nach Berlin gehen muss, dürfte überholt sein (tatsächlich ist es jetzt eher Leipzig, weil dort die Mieten noch vergleichsweise günstig sind). Vielmehr wird heute die Überschaubarkeit und dadurch größere Sichtbarkeit in einer Stadt wie Hamburg von den Kunstschaffenden geschätzt. Was aber nach wie vor fehlt, ist eine große Kunstmesse. Dass 2021 zum ersten Mal im Brandshof eine paper positions Hamburg stattfand, wertet Galerist Patrick Herold aber als ein gutes Zeichen.

Die Wende hin zu mehr Teilhabe und einer kulturellen Nachhaltigkeit, aber auch die Digitalisierung mit ihrer Möglichkeit der Eigenvermarktung bieten Künstlerinnen und Künstlern neue Chancen, die diese sichtbar nutzen. Und vielleicht führt das Ende der Fixierung auf wenige große, zugkräftige Namen auch beim Publikum zu einer intensiveren Konzentration auf Inhalte.

Warum gefällt mir ein Werk, ein Stil besonders, welches Thema spricht mich an, und welche Künstlerinnen und Künstler finde ich interessant? Es ist, da sind sich die meisten Protagonisten einig, an der Zeit, sich bei aller Anerkennung von Größen wie Jonathan Meese, Daniel Richter und John Bock vom Starsystem zu lösen und sich dem spannenden Neuen zuzuwenden, das gerade auch in Hamburg überall entsteht.

„Young Ones. Junge Kunst aus Hamburg“ bis 14.5., Galerie Herold, Colonnaden 5, geöffnet Di–Fr 11.00– 18.00, Sa nach Vereinbarung, Eintritt frei, galerie-herold.de