Hamburg. Milan Ther will als neuer Leiter seine eigene Agenda verfolgen, Brücken schlagen und den Kunstverein jünger und diverser machen.

Dass ein Medizinschrank viel mehr ist als nur ein Medizinschrank – davon war Milan Ther schon als kleiner Junge überzeugt. Und zwar so vehement, dass er darüber in innerfamiliären Streit trat. Seine Tante und Mutter, die eine ehemalige „Christie’s“-Expertin, die andere Theaterregisseurin, waren nämlich der Ansicht, Damien Hirsts frühe Skulpturen, die vom Minimalismus geprägten „Medical Cabinets“, seien bloß Mobiliar.

Das Erkennen und die Auseinandersetzung mit Begriffen von Kunst, Kunst als etwas ganz Mittelbares, individuell Erfahrbares, diese frühe, sehr lebhafte Erinnerung als Fünfjähriger in einer Londoner Ausstellung, hat vermutlich einen Teil dazu beigetragen, dass Milan Ther (heute 34) künstlerischer Leiter des Kunstvereins Hamburg ist; seit 1. April hat er sein neues Amt inne.

Personalwechsel: Ther will fünf Jahre bleiben

Über Möbel kann der Kunsthistoriker ebenso leidenschaftlich sprechen wie über zeitgenössische Kunst. In seinem Büro, in dem Ther zum Interview empfängt, fällt eine eichenhölzerne Anrichte mit eigenartig geschwungenen Füßen sofort ins Auge: „Ein Stück von Børge Mogensen.“ Etwas nachlässig lehnen zwei Grand-Prix-Stühle von Arne Jacobsen neben zwei leeren dunkelgrauen Billy-Regalen. Während Ther am Klosterwall für mindestens fünf Jahre bleiben will, wird es für die Designermöbel nur ein Zwischenstopp sein, bis ihr Besitzer aus der provisorischen Wohnung auf St. Pauli ins dauerhafte Domizil im Grindelviertel gezogen ist.

Hinter seinem Schreibtisch türmt sich in mehreren Regalmetern Fachliteratur, die schon seine Vorgänger Yilmaz Dziewior, Florian Waldvogel und Bettina Steinbrügge angesammelt haben. Man kann sich vorstellen, dass der neue Direktor demnächst die Reihen durchgehen und wegnehmen wird, was nicht unbedingt brauchbar ist.

Milan Ther in Kopenhagen geboren

Die legendäre skandinavische Schlichtheit und Eleganz, sie drückt sich auch in Thers Garderobe aus: dunkelblauer Pulli zu dunkler Hose, edler Stoff, versteht sich. Beim Vorschlag des Fotografen, sich vor dem grellgelben Hintergrund der aktuellen Foto-Ausstellung von Alfred Schönherr im Erdgeschoss ablichten zu lassen, zögert Ther zunächst aus Sorge, zu blass rüberzukommen, lässt sich aber dann doch überzeugen.

Milan Ther ist in Kopenhagen geboren und aufgewachsen. Seine, im Gegensatz zur kantig-hanseatischen auffallend weiche Aussprache verrät seine Herkunft. Sehr herzlich sei er von den Mitgliedern und dem Vorstand in Hamburg empfangen worden, erzählt er bei kühlem Mineralwasser. Man merke, dass dieser Verein mit seiner basisdemokratischen Struktur als Institution etwas Besonderes ist: „Man freut sich, fiebert mit, zeigt seine Anwesenheit bei solchen Anlässen.“

„Der Kunstverein ist ein Ort, mit dem ich Nähe verbinde"

Es ist ja auch nicht das erste Mal, dass Milan Ther hier tätig ist. 2014 machte er ein Praktikum bei „Bettina“, wie er seine Vorgängerin Steinbrügge freundschaftlich nennt. „Das war, neben der Istanbul-Biennale, meine erste Station im institutionellen Kunstbetrieb.“ Später kam Ther noch einmal zu einem Künstlerinnengespräch mit Lara Steinemann, zuletzt 2021 anlässlich der „Magazine“-Ausstellung mit dem Hamburger Künstler David Lieske. „Der Kunstverein ist ein Ort, mit dem ich Nähe verbinde, an dem ich mich immer gut aufgehoben gefühlt habe.“

Kontakt habe man ohnehin von Kunstverein zu Kunstverein, diesen Orten bürgerlichen Engagements für die Kunst mit regionaler Verankerung, die es in keinem anderen Land gebe, so Ther. Vor seiner Tätigkeit am Klosterwall hatte er vier Jahre lang den Nürnberger Kunstverein geleitet. Kunstvereine seien „sehr wichtig für die zeitgenössische Kunst, für junge Künstlerinnen und Künstler, deren Werke noch nicht in musealen Beständen vertreten sind. Als Transporteur von Zeitströmungen, Entwicklungen und ästhetischer Praxis.“

Kunstvereine flexibler als Museen

Zum Studium ging Ther nach New York: Kunstgeschichte mit Fokus Gegenwartskunst und Medien, Kommunikation und Kultur mit Schwerpunkt auf globale Prozesse. „Berauschend“ sei diese Zeit inmitten von jungen Künstlerinnen und Künstlern gewesen, zu sehen, wie das System der Kunstproduktion als Ganzes funktioniere. Das Kuratieren lernte Milan Ther anschließend an der Städelschule in Frankfurt am Main. Seinen ersten Job nach der Uni hatte er an der Kestner Gesellschaft in Hannover.

Kunstvereine könnten im Gegensatz zu Museen viel flexibler arbeiten, schneller reagieren, hätten eine gute Position, um mit der Gegenwart in Dialog zu treten. Dafür beschreibt er eine Ausstellung, die er in Nürnberg mit der Künstlerin Leslie Thornton kuratiert hat: In der Arbeit „Strange Space“ aus den 1990er-Jahren liest der Autor Ron Vawter ein Rilke-Gedicht vor dem Hintergrund einer Aids-Behandlung, als Ausdruck der Entfremdung seines Selbst zwischen Körper und Raum gegenüber dem kognitiven Verständnisses für die eigene Sterblichkeit.

Ther will den Kunstverein diverser machen

Die Geschichte des Hamburger Kunstvereins sei reich, Ther will auch bei seinem künftigen Ausstellungsprogramm, das im Frühjahr 2023 starten wird, daraus schöpfen, aber auch eine ganz klare, eigene Agenda verfolgen. Wichtig sei es, immer wieder Kurskorrekturen vorzunehmen, sobald man bei sich Muster in der kuratorischen Praxis feststelle. Kameraderie, Solidarität sind ihm wichtig, er freue sich über Kooperationen mit anderen Kulturstätten, über den Brückenschlag zu anderen Häusern und den performativen Künsten. Er will den Verein noch mehr zur Gesellschaft hin öffnen, jünger und diverser machen.

Seine Kolleginnen und Kollegen in den anderen Museen und Ausstellungshäusern hat Milan Ther in den ersten beiden Wochen seiner Amtszeit schon kennengelernt. „Man greift hier viel schneller zum Du als in Bayern“, sagt der Däne, der aus seinem Heimatland die Höflichkeitsansprache gar nicht kennt. Und auch auf den ersten großen künstlerischen Höhepunkt, die Triennale der Photographie im Mai, freut sich der Direktor des Kunstvereins.

Personalwechsel: Ther schätzt die Kultur von St. Pauli

Theater, Film, Tanz, bildende Kunst – neben diesen „großen Lieben“ spielt Sport eine zentrale Rolle in seinem Leben. Er fährt viel Fahrrad und spielt gerne Tennis. An seinem jetzigen Wohnort, St. Pauli nahe der dänischen Seefahrtskirche, schätzt er die Geschichte und Kultur, die starke Gemeinschaft, die sich auch über den dort ansässigen Fußballclub transportiere; ein Spiel will er sich demnächst ansehen.

Ob er im Urlaub auch sofort das nächste Museum ansteuere? Das sei der Grund, um überhaupt irgendwohin zu reisen, antwortet Milan Ther. Bezeichnend: Sein erster Kunst-Trip, der nach den Corona-Lockdowns wieder möglich war, ging nicht nach New York, Paris oder London, sondern nach Hamburg – zum Kunstverein.