Hamburg . Der Regisseur und frühere Thalia-Intendant ist im Alter von 81 Jahren gestorben. Nachruf auf eine Bühnenlegende.
41 Mal hat er in Hamburg inszeniert. Oder 42 Mal, ganz sicher war Jürgen Flimm am Ende nicht mehr, obwohl er eigentlich wirklich gut Buch geführt hat. Aber einmal wollte er noch, unbedingt, ein einziges, letztes Mal wollte Jürgen Flimm, den so viel mit dieser Stadt verbunden hat, eine eigene Inszenierung auf eine Hamburger Bühne bringen.
Am Thalia Theater, wo er anderthalb Jahrzehnte Intendant war, mit dem ihn unter all den Bühnen, die er prägte, immer „eine besondere Liebe“ verband, und wo er, wie er es zufrieden feststellte, „jeden Zentimeter kannte“, dort hätte er diese Inszenierung am liebsten erarbeitet. Sogar auf seine Gage hätte er verzichtet. Man wurde sich trotzdem nicht einig.
Jürgen Flimm: Bühnenlegende ist gestorben
Dass ihn die Zurückweisung kränkte, verschwieg er nicht, aber längeres Beleidigtsein passte weder zu seinem heiteren Charakter noch zu seinem Selbstverständnis (nicht er verpasste hier eine Chance, sondern das Thalia!), und andere Theater hatten schließlich auch schöne Bühnen: Am St. Pauli Theater wollte er es noch einmal wissen, im Frühjahr 2020 war die große Flimm-Premiere angesetzt, mit Starbesetzung hatte der alte Meister „Gefährliche Liebschaften“ geprobt, zunächst an seinem Zweitwohnsitz in Berlin, dann in Hamburg.
Doch zur Premiere kam es nie. Erst verhinderte die Pandemie das Vorhaben, das der Saisonhöhepunkt des kleinen Kieztheaters werden sollte („Ein bildschönes Haus! Wie im Londoner Westend“, hatte Flimm geschwärmt), dann die Schwierigkeiten, das gut beschäftigte Ensemble inmitten der On-und-Off-Lockdowns noch ein zweites Mal zusammen zu bekommen.
Jürgen Flimm hatte Produktion am St. Pauli Theater geplant
Für dieses Frühjahr war am St. Pauli Theater nun eine neue Produktion angekündigt, eine Nummer bescheidener, das Zusammentreffen zweier Grandseigneurs der Hamburger Theaterlandschaft: Flimm plante, seinen alten Weggefährten Wolf-Dietrich Sprenger in Samuel Becketts „Das letzte Band“ in Szene zu setzen.
Jetzt aber wird es auch dieses Finale nicht mehr auf eine Hamburger Bühne schaffen. Jürgen Flimm ist am frühen Sonnabendmorgen im Alter von 81 Jahren gestorben. Mit ihm, das kann man wohl so unbescheiden sagen, endet ein Kapitel der deutschsprachigen Theatergeschichte. Nicht nur in Hamburg.
Als Sohn eines Arztehepaares – der Vater ein Theaterarzt, den er früh und oft in die Vorstellungen begleiten durfte – wuchs Jürgen Flimm in Köln auf. Die rheinische Lebenslust prägte seinen Charakter, sensibel war er, aber nie jemand, der einen Leidensweg für seine Kunst brauchte.
Im Gegenteil: Der menschliche Austausch, das ausführliche, pointenreiche Erzählen waren fester Bestandteil der Flimmschen Arbeitsweise (und übrigens auch jedes Interviews mit ihm). „Deswegen haben die Proben bei ihm immer etwas später begonnen“, erinnerte sich die Schauspielerin Katharina Thalbach, die einst bei ihm das Käthchen von Heilbronn spielte, zu seinem 80. Geburtstag in der „Süddeutschen Zeitung“. „Erst mal warm reden. Was da gequatscht wurde! Und gelacht!“
Jürgen Flimm war dankbarer Podiumsgast und loyaler Weggefährte
Flimm war im allerbesten Sinne eine Anekdotenschleuder, ein dankbarer Podiumsgast und ein loyaler Weggefährte. Auch mit St.-Pauli-Intendant Ulrich Waller, der einst sein Regieassistent war, und mit Sven-Eric Bechtolf, der zuletzt in „Gefährliche Liebschaften“ als Valmont besetzt war, verband ihn eine lange gemeinsame Strecke, das Erinnern gehörte auch hier zur Arbeit an der Produktion: „Wir haben erst mal erzählt, wie es früher war“, berichtete Flimm während der Proben.
„Wir packen die alten Anekdoten aus, Sven kennt viele. Wie ich mal das Regiepult durch die Gegend geschmissen habe… Ach, es war wirklich sehr schön.“
Begonnen hat Jürgen Flimm seine Laufbahn nicht neben, sondern auf der Bühne. Der einzige Beruf, den er „nachweisen“ konnte, wie er selbst manchmal kokettierte, war Schauspieler, seine Ausbildung hatte Jürgen Flimm an einer kleinen Kölner Schauspielschule absolviert. 1968 begann er – übrigens gemeinsam mit Peter Stein, der es bekanntermaßen später ebenfalls zur Theaterlegende bringen sollte – als Regieassistent bei Fritz Kortner und Claus Peymann an den Münchner Kammerspielen, bei der Regie blieb er sein Leben lang.
Flimms allererste Erinnerung an das Thalia Theater
Nach Stationen als Spielleiter in Mannheim und Oberspielleiter in Hamburg, schon damals am Thalia Theater, ging er 1979 als Intendant nach Köln, die Intendanz in Hamburg folgte im Anschluss. Flimms allererste Erinnerung an das Thalia Theater allerdings ist älter, und sie ist natürlich ebenfalls längst zur Anekdote geworden: „Schlaf auf der Probebühne.“
Boy Gobert war Intendant, und Flimm war, wie er im Abendblatt-Interview später vergnügt erzählte, „gar nix, völlig arbeitslos“. Gobert jedoch habe ihm Stücke zu lesen gegeben, und das tat er, unermüdlich, auf der Probebühne. „Dabei bin ich eingeschlafen.“ Aber wie das so ist, den wirklich Talentierten gibt es der Herr im Schlaf: „Gobert hat mir ,Die Bremer Freiheit’ von Fassbinder angeboten. Das habe ich dann inszeniert.“
An anderer Stelle erinnerte sich Flimm übrigens ausführlicher, und vielleicht erklärt die Erweiterung, warum er damals beim Lesen einschlafen musste – in den Nächten nämlich hatte er Besseres zu tun: „Boy Gobert hatte gerade das Thalia Theater übernommen und galt in unseren Kreisen so viel wie der Gottseibeiuns im Nonnenkloster. Letzter Hort der bürgerlichen Restauration schien uns dieses Haus am Alstertor, was sollte ich bloß mit ihm anfangen?“
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Aber der Gottseibeiuns hatte ihn angerufen, man traf sich, es wurde „ein feucht-fröhlicher Abend bis in die Nacht“ – Flimm inszenierte Fassbinder und wurde schließlich 1985 Boy Goberts Nachfolger als Intendant der Hamburger Traditionsbühne. „Damals gingen die auch alle noch in die Premieren, die Augsteins dieser Stadt“, erzählte er gern. „Die Premierenfeiern fanden bei reichen Privatleuten statt. Da musste man dann hingehen.“
„Das schönste Theater ist ein volles Theater!“
Jürgen Flimm (der auf Rudolf Augstein später einen ausgesprochen liebevollen Nachruf verfasste) genoss die Aufmerksamkeit auch dieser Klientel, abhängig war er davon nie. Seine Definition von „gutem Theater“ war erst recht keine abgehobene, sondern eine pragmatische: „Das schönste Theater ist ein volles Theater! Fertig ist der Lack.“
Dass es auch hervorragendes Theater gab, in das sich trotzdem niemand verirrte, war ihm natürlich klar, eine Erfolgsformel hat er nie für sich reklamiert. „Man denkt manchmal, dass man weiß, was das Publikum will. Aber man weiß es eben nicht.“ Mit Frank Baumbauer, der gleichzeitig am Schauspielhaus Intendant war, stritt er leidenschaftlich gern. Auch weil ihn die ungleiche Verteilung der Zuwendungen fuchste.
„Frank Baumbauer hatte ja sechs Millionen mehr als wir. Aber wir haben nicht gejammert! Wir haben denen gezeigt, was ’ne Harke ist. Luc Bondy war da, Wilson, Gosch, Tabori, Berghaus, Sellars, Minks… Wir waren ziemlich gut drauf damals! Mit Frank hab ich mich gezofft und immer wieder vertragen.“
Tschechow war ihm besonders nah, und er liebte Mozart
Als Intendant der Ruhrtriennale vertrat Jürgen Flimm, den Gerhard Schröder mal zu seinem Kulturstaatsminister machen wollte (er schlug aus), ein „Theater für alle“. „Wenn die Schauspieler toll sind“, fand er ohnehin, „können Sie ja überall arbeiten, es ist ja völlig wurscht, wo!“ Selbst hat er an zahlreichen großen Bühnen inszeniert, in Hamburg, Köln, Wien, Frankfurt, Berlin, an der Mailänder Scala, am Royal Opera House Covent Garden London und in New York.
Tschechow war ihm besonders nah, und er liebte Mozart. „Der Figaro ist sowieso das allerbeste je für das Theater erdachte Stück“, schrieb er einmal in einem Gastbeitrag für diese Zeitung. Seine erste Oper aber war Luigi Nonos „Al gran sole carico d’amore“ 1978 in Frankfurt am Main.
Im Jahr 2000 brachte er Wagners „Ring des Nibelungen“ bei den Bayreuther Festspielen heraus, seinen „Fidelio“ kürte die „New York Times“ im selben Jahr zur besten Opernproduktion des Jahres. Flimm war Schauspieldirektor und von 2006 bis 2010 Intendant der Festspiele in Salzburg, wo am Sonntag eine schwarze Fahne zu seinen Ehren wehte. Und er leitete in der Hauptstadt zuletzt, noch bis 2018, die Berliner Staatsoper Unter den Linden.
Was Jürgen Flimm gehörig auf die Nerven ging
Auch die Religion interessierte ihn durchaus, den zwar in Gießen geborenen, aber als Protestant in der Diaspora groß gewordenen Flimm. „Beten kommt vor“, hat er es mal salopp formuliert. „Schlechte Predigten, inspirationslose Pastoren, Frömmelei und liturgisches Geleier“ allerdings gingen ihm gehörig auf die Nerven, gestand er der Zeitschrift „Chrismon“ und wiederholte dies sinngemäß auch in einer Hamburger Podiumsbegegnung mit seinem Freund, dem CDU-Politiker Norbert Lammert, in der Katholischen Akademie im vergangenen Sommer. Da kam der Regisseur auch im Gläubigen durch.
„Die Oper und der Fußball“, fand Flimm hingegen, der Mitglied bei Werder Bremen, aber auch beim FC St. Pauli war, „sind ja gar nicht so weit auseinander.“ Mit Daniel Barenboim, dem er noch kürzlich im „Tagesspiegel“ zum 80. Geburtstag gratuliert hatte, war er ebenso befreundet wie mit Otto Rehhagel. Die Leidenschaft, die Bedingungslosigkeit, das Publikum, aber auch die Leichtigkeit und der Spaß haben für ihn die Rasenkunst mit jener auf den berühmten Brettern verbunden.
„Es gibt Wichtigeres“
Und nicht zuletzt wohl auch das Bewusstsein oder die Gelassenheit, bei aller unbedingten Hingabe zum Spiel, bei aller Ernsthaftigkeit sagen zu können: Ist ja nur Fußball. Oder: Ist ja nur Theater. Sportsgeist half ihm hier wie dort (und gelegentlich sicher auch im Umgang mit der Kulturpolitik). „Es gibt Wichtigeres“, sagte er mitten im ersten Lockdown, als die ersehnte und nahezu fertig geprobte Hamburger Premiere abgesagt und die Zukunft ungewiss war, erst recht für jemanden, der seinen 80. Geburtstag damals kurz vor sich hatte. Und das meinte er so.
Einerseits. Weil es, andererseits, so sehr viel Wichtigeres als das Theater natürlich doch nicht gab. Nicht für einen wie ihn. „Ich kann mir ein Leben ohne Bücher vorstellen, ohne Theater und natürlich auch ohne Werder Bremen“, stellte er in der „Zeit“ klar. „Aber das Leben mit alledem ist sehr viel schöner.“
Am Theater war er nicht nur Zeremonienmeister, Regisseur und Intendant, sondern auch Herbergsvater und Patron. Als er vor ein paar Jahren gemeinsam mit seinem Nachnachfolger Joachim Lux für ein Abendblatt-Doppelinterview zum 175. Jubiläum des Thalia Theaters zusagte, schritt er durch den vertrauten Bau, als sei er noch immer hier zu Hause. Umarmungen hier, ein Scherz dort. Er genoss es. Und es hat ihm diebischen Spaß gemacht, das nicht zu verstecken.
Jürgen Flimm: Sentimentalität war ihm nicht fremd
Einen „Atmosphärenzauberer und Menschendurchschauer“ nannte ihn der Soziologe Wolf Lepenies einst im Vorwort zu Flimms Buch „Die gestürzte Pyramide“. Das Theater war für Jürgen Flimm so etwas wie eine Erweiterung der Familie. Zum Abschiedsfest seiner Zeit als Intendant an der Berliner Staatsoper Unter den Linden hatte ihm jemand Servietten mit seinem gezeichneten Selbstporträt bedruckt.
Die hielt er in Ehren, wer ihn zum Frühstücksinterview in seiner schönen Berliner Altbauwohnung traf, bekam sein Croissant auf dem gezeichneten Flimm-Kopf serviert. Schon weil es Anlass für die nächste Schnurre bot.
Sentimentalität war ihm nicht fremd. Seine Medikamente hatte er nach einem Schlaganfall in ein ehemaliges Pfefferminzdropsdöschen vom Thalia Theater sortiert. Alles hat er aufgehoben, alte Plakate, Regiebücher, Kalender, Kladden voll mit Erinnerungen. Auf seinem Landsitz bei Stade war ja Platz genug für alles, 13 Zimmer und im ersten Stock ein Raum mit lauter kleinen Kästchen, auf jedem eine Jahreszahl. Bis zuletzt hat Jürgen Flimm hier an einem Erinnerungsbuch geschrieben. Im Reinen mit sich. Und mit Blick auf die Elbe.