Das Thalia feiert 175 Jahre – und der Intendant Joachim Lux und sein Vorvorgänger Jürgen Flimm plaudern über Geister im Gemäuer.
Zwei Männer, eine Geliebte – das geht nur dann gut, wenn die Verehrte eine Muse ist. Wie eben Thalia, von der das Theater am Alstertor seinen Namen hat. Zum 175. Geburtstag baten wir Thalia-Intendant Joachim Lux und seinen Amtsvorvorgänger Jürgen Flimm in die „gute Stube“ der Stadt, es ging um hohe Schauspielhaus-Gagen, Schmuddeldramatiker und die nicht unwesentliche Frage, was das eigentlich ist: gutes Theater.
Das Thalia Theater wurde vor 175 Jahren vom Sohn eines französischen Schnapsfabrikanten gegründet. Da ist die Pointe zur „Schnapsidee Thalia Theater“ nicht weit …
Flimm : Ha! Das Thalia hat jedenfalls alles, was ein gutes Theater braucht!
Lux: Das mit dem Schnaps ist eine interessante Sache: Theater war ja früher das, was man heute Entertainmentindustrie nennt. Es ging nicht darum, große Kunst zu machen, sondern auch darum, Geld zu verdienen. Dass der Sohn eines Schnapsfabrikanten ein Theater gründet, klingt also heute lustig, entspricht aber den Realitäten des 19. Jahrhunderts. Es war übrigens auch ein Wagnis. Ein Unternehmersohn gründet ein Start-Up.
Was für ein Theater haben die denn gemacht, am Thalia vor 175 Jahren?
Lux: Leichte Kost. Das Klischee, das lange im Umlauf war über das Thalia Theater, ist also erst einmal richtig – aber es ist unvollständig. Nicht erst Boy Gobert oder Jürgen Flimm oder Ulrich Khuon oder ich haben hier die Kunst in die Spielpläne gebracht. Zum Beispiel ist das damals unsägliche Skandalstück „Nora“ von diesem modernistischen Autor Ibsen Ende des 19. Jahrhunderts unmittelbar nach der Uraufführung hier gezeigt worden. Das war extrem mutig, weil das erste Mal auf der Bühne eine Frau ihren Mann verließ. Der Witz ist: Das Thalia musste sich durchmogeln, damit das Publikum das akzeptierte. Die Nora nahm also am Schluss ihre Tasche, ging, stellte die Tasche dann auf halbem Weg wieder hin und ging nicht ganz ab.
Flimm: Keine Werktreue!
Lux: Nee, wirklich nicht. Und dann war da dieser andere Schmuddelautor, Frank Wedekind, der ist Anfang des 20. Jahrhunderts von Leopold Jessner hier gezeigt worden. Und der war immerhin Chefregisseur. Der Intendant Willy Maertens, Vater unseres 87-jährigen Ensemblemitglieds Peter Maertens, hat auch das Theater seiner Zeit gemacht, hat Thornton Wilder oder George Bernhard Shaw gespielt. Findet man heute vielleicht langweilig, war aber groß. Bei Flimm waren es Tankred Dorst oder Botho Strauss, in meiner Zeit sind es interkulturelle Autoren wie Navid Kermani, Saša Stanišić oder die georgische Hamburgerin Nino Haratischwili.
Gibt es so etwas wie einen Thalia-Geist? Unabhängig vom jeweiligen Intendanten?
Lux: Der steckt im Gemäuer! Davon bin ich fest überzeugt. Es geht immer um ein Gruppenkunstwerk, um das Ensemble.
Geht es darum nicht an jedem Theater?
Lux: Nee! Ich kenne Theater, die sind mehr wie eine Firma. Das Thalia ist keine Firma. Das Thalia ist eine Familie. Das habe ich so noch nirgends erlebt. Am Burgtheater, wo ich vorher war, war das etwas ganz anderes.
Flimm: Dieses Ensemble ist sehr gut, war es immer. Es ist auch miteinander und zueinander gut. Und ich glaube, es gibt es noch einen wichtigen Grund: Die Proportionen stimmen.
Sie meinen architektonisch?
Flimm: Genau, ganz simpel. Von der Bühne bis zum Ende des Zuschauerraums sind es 13 Meter. Die Schauspieler wissen also immer, wohin sie sprechen. An der New Yorker Met sind es 150 Meter oder so, unendlich! Das Schauspielhaus ist auch riesig, das war ja auch eigentlich als Opernhaus konzipiert. Und am Thalia ist es toll, dass einem die Schauspieler so nah sind. Sie sind immer im Zentrum. Das Thalia war nie ein Konzeptionstheater wie das Schauspielhaus. Die mussten sich da drüben immer wahnsinnig um Remmidemmi bemühen, während das Thalia die Intimität hatte. Es war immer „die gute Stube“ der Stadt. Das Publikum hat seine Thalia-Schauspieler geliebt – nicht die Intendanten, was natürlich schmerzlich für uns ist (lächelt). Und der Bau hat noch einen wahnsinnigen Vorteil, den ich Ihnen jetzt verrate: Das Parkett kriegt man immer voll. Die ersten Reihen der Ränge auch. Was dahinter ist, sieht man am Thalia nicht! Zuschauer und Schauspieler denken immer: ausverkauft! Die gehen aus der Vorstellung und freuen sich. So viel Schnaps kann man gar nicht trinken, wie man das Thalia Theater loben müsste.
Was bedeutet Ihnen beiden das Thalia Theater persönlich?
Flimm: Ich liebe es sehr.
Lux: Ich habe total gern am Burgtheater arbeitet, zehn Jahre lang. Das habe ich auch geliebt, auch Wien, diese kulturverliebte Stadt. Aber kaum war ich drei Monate in Hamburg, habe ich mich persönlich für dieses Haus verantwortlich gefühlt. Nicht weil ich einen Vertrag hatte. Sondern weil ich mich dem Thalia verbunden fühlte. Als Mensch.
Flimm: Ich weiß gar nicht mehr, wie viele Theater man mir angeboten hatte. Zweimal sollte ich Intendant am Burgtheater werden, sogar das Schauspielhaus sollte ich mal übernehmen! Aber ich wollte nie weg.
Was ist Ihre erste Erinnerung an das Thalia Theater?
Flimm: Ein Schlaf auf der Probebühne. Ich habe Stücke gelesen, die mir Boy Gobert gegeben hatte, und bin eingeschlafen. Damals war ich ja gar nix, völlig arbeitslos. Aber Gobert hat mir „Die Bremer Freiheit“ von Fassbinder angeboten. Das habe ich dann inszeniert, vor 47 Jahren! War ein großer Erfolg. Damals gingen die auch alle noch in die Premieren, die Augsteins dieser Stadt. Die Premierenfeiern fanden bei reichen Privatleuten statt.
Lux: Wirklich?
Flimm: Ja! Da musste man dann hingehen. Wann warst du das erste Mal im Thalia? Bei mir?
Lux: Nee, bei Peter Striebeck. In einem Stück, von dem ich gehört hatte, dass es ganz schrecklich sein sollte, „Marija“ von Isaac Babel ...
Flimm: … das war nicht Striebeck, das war bei mir!
Lux: Ach so? Na, ich fand es jedenfalls gar nicht schrecklich. Später fuhr ich immer wieder nach Hamburg, um hier ins Theater zu gehen, aber ich gebe zu, dass ich mich lange mehr für das Schauspielhaus interessiert habe … Das Thalia als „gute Stube“ hatte eben den Ruf des Gediegenen, Kleinbürgerlichen. Das gilt natürlich schon länger nicht mehr.
Gibt es diese Konkurrenz zwischen Schauspielhaus und Thalia tatsächlich? Empfindet man das als Intendant so?
Flimm: Es gibt jedenfalls immer Leute, die denken, eigentlich steppt der Bär im Schauspielhaus. Und warum? Bloß weil der blöde Gründgens da mal sieben Jahre rumgeturnt ist! Aber abgesehen davon habe ich mich in Hamburg krank geärgert über die Bevorzugung des Schauspielhauses. Immer haben die mehr Geld bekommen als das brave Thalia!
Lux: Das hat sich nicht geändert.
Flimm: Es sieht ja auch doll aus, innen voller Putten und Gold. Ich habe immer gesagt: Bei uns gucken die Leute nicht auf Putten, bei uns gucken die auf die Bühne. Als Peter Zadek Schauspielhaus-Intendant war, hatten wir trotzdem eine Verabredung: Wir sprechen nicht schlecht übereinander. Nie. Also, nicht öffentlich.
Haben Sie so eine Verabredung auch mit Karin Beier, Herr Lux?
Lux: Nein. Brauchen wir nicht. Dass das Thalia weniger Geld bekommt, ärgert mich aber auch. Das ist historisch gewachsen, hat aber heute keinen Grund mehr. Kleinkrieg gibt es trotzdem nicht. Auch wenn da drüben die viel besseren Gagen bezahlt werden. Sie versuchen ja nicht, Leute von uns abzuwerben. Jeder versucht, gutes Theater zu machen.
Was ist das: gutes Theater?
Flimm: Das habe ich schon 1978 gesagt: Das schönste Theater ist ein volles Theater! Fertig ist der Lack. Das Publikum ist ja nicht blöde. Wenn jemand 18 Jahre lang Abonnent ist, weiß er, was gut und was schlecht ist. Natürlich verändert sich das Theater. Was heute gut ist, werden wir wahrscheinlich morgen wissen.
Lux: Gutes Theater braucht die geglückte Kommunikation zwischen Bühne und Zuschauer. Wenn das Theater nur zeigt, was es glaubt, was das Publikum will – das funktioniert nicht.
Flimm: Absolut richtig! Man denkt manchmal, dass man weiß, was das Publikum will. Aber man weiß es eben nicht.
Lux: Es gibt auch gutes Theater, das nicht voll ist.
Flimm: Stimmt.
Lux: Gutes Theater muss auch nicht politisch sein. Es muss gar nichts. Weil es nämlich Kunst ist.
Sie verstehen das Theater trotzdem als einen politischen Raum, Herr Lux. Ist Theater heute politischer als zu Ihrer Zeit, Herr Flimm?
Flimm: Nein, wir sind alle politische Menschen und haben Meinungen und Haltungen. Die kann man uns nicht austreiben. Man ist ja offen für Strömungen. Sonst schläft man ein.
Lux: Ich bin ein politischer Mensch, das verheimliche ich nicht. Die Fragen, die uns derzeit bewegen, die sind ein extrem starker Programmschwerpunkt am Thalia Theater. Solche Akzente sind für ein Kulturinstitut – und übrigens auch für eine Stadt – wichtig. Man kann nicht mehr sagen: Ich mache einfach Theater, egal, was in der Welt drumherum los ist.
Eine Intendantin gab es in der Thalia-Geschichte bislang nicht. Wie viele Regisseurinnen gab es denn zu Ihrer Zeit, Herr Flimm?
Flimm: … hmmm… nicht so viele …
Lux: Ruth Berghaus!
Flimm: Ja, Ruth Berghaus. Sonst …? Damals gab es nicht so viel Regisseurinnen.
Lux: Wir haben einige – Jette Steckel hatte gerade Premiere. Aber das können gern noch mehr werden.
Welche Inszenierung hat Ihnen aus der Ära Flimm besonders gefallen, Herr Lux?
Lux: Der „Platonow“ mit Hans Christian Rudolph. Da schreiben sich auch Geschichten fort: Sein Neffe Sebastian Rudolph ist jetzt bei uns engagiert.
Wann waren Sie das letzte Mal als Zuschauer im Thalia, Herr Flimm?
Flimm: Das ist länger her. Es ist immer noch ein schwerer Weg für mich.
Wenn Joachim Lux Ihnen jetzt anbieten würde, hier noch einmal zu inszenieren – würden Sie annehmen?
Flimm: Ja, sicher! Ich will auch gar kein Geld! Ich wollte immer die Stationen meines Lebens noch einmal abschreiten. Aber der Lux hat Angst, dass ich ihm hier durchs Theater fege …
Lux: (lacht) Sprechen wir nach dem Jubiläum weiter …
Jubiläumswoche
„175 Jahre Gegenwart“ feiert das Thalia Theater in diesem Herbst – eine vielseitige Jubiläumsfestwoche vom 2. bis zum 11. November zeigt ausgezeichnete Stücke und startet mit einer Uraufführung in der Gaußstraße: „Dritte Republik“ von Thomas Köck (2.11., 20 Uhr). Ebenfalls im Fest-Programm sind u.a. Stuckrad-Barres „Panikherz“ (2.11., 19 Uhr), „Schnee“ von Orhan Pamuk (3.11., 17 Uhr, Gaußstraße) und „Faust I“ (4.11., 19 Uhr), Peter Handkes „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ (6.11., 20 Uhr) und „Don Giovanni. Letzte Party“ am 10.11. (20 Uhr) – anschließend ist Party im gesamten Haus (Eintritt frei).
Nach vielen Vorstellungen gibt es AfterShowMiniaturen (Eintritt frei) im Nachtasyl. Eine Festmatinee am 11.11. feiert das „Theater als Raum der Freiheit“.
Karten und das komplette Programm: www.thalia-theater.de