Hamburg. Wie hat sich die Nutzung von Kultur während der Corona-Jahre verändert? Ein Berliner Studie liefert Erkenntnisse.
Als die „Süddeutsche Zeitung“ neulich einen Feuilleton-Aufmacher über das angeblich wieder zurückkehrende Publikum mit „Da seid ihr ja wieder“ übertitelte, fehlte der Zeile ziemlich Entscheidendes: ein Fragezeichen. Denn so einfach und eindeutig ist sie ja nach wie vor nicht, diese Suche nach und die Hoffnung auf Normalität. Manche Häuser sind schon wieder voll, einige noch optimistisch, andere bereits verzweifelt. Bekanntheitsgrad hilft gut und gern, wie schon vor den Corona-Jahren und dem Kriegsbeginn in der Ukraine. Aber eben auch nicht immer und nicht immer gleich viel.
Manche setzen deswegen auf leichtgängige Monokultur und ganz sichere Nummern als Publikumsmagnete und verkneifen sich das Anstrengendere. Ein hiesiges Extrem-Beispiel wäre der Pianist Jan Lisiecki, der inzwischen fast so oft im Großen Saal der Elbphilharmonie zugegen ist wie deren Intendant; im Januar lagen zwischen zwei Auftritten mit zwei Orchestern gerade mal sechs Tage.
Dass andererseits der Pariser Louvre kürzlich seine Besucherzahl um ein Drittel auf maximal 30.000 Menschen pro Tag deckelte, um nicht ständig überrannt zu werden, ist wohl ein absolutes Post-Corona-Einzelschicksal und Jammern auf sehr hohem Niveau. Der spartenübergreifende Beziehungsstatus: Es ist kompliziert.
Die Ergebnisse sind teilweise eindeutig und vielschichtig zugleich
Während die Hamburger Kulturbehörde sich deswegen für die nächsten Monate eine umfangreiche Publikumsbefragung vorgenommen hat, die durch eine Nicht-Besucherbefragung eine wichtige zweite Perspektive erhalten soll, hat die Berliner Kulturlandschaft schon vorgelegt. Dort hat das „Institut für Kulturelle Teilhabeforschung“ die strukturellen Veränderungen im Kulturpublikum zwischen 2019 und 2022 abgefragt und aufgeschlüsselt.
In 17 Museen und Gedenkstätten sowie neun Bühnen wurden rund 56.000 Menschen befragt (in Hamburg sollen es etwa 15.000 sein) und die Ergebnisse sind teilweise eindeutig und vielschichtig zugleich. Doch der Titel der Studie macht deutlich, wie ernst die Lage ist: „Die Pandemie als Brandbeschleuniger“. Soll mahnen: Wer heute nicht sinnstiftend löscht und sich Neues einfallen lässt, ist morgen abgebrannt.
Titel der Berliner Studie: „Die Pandemie als Brandbeschleuniger“
Der Ü60-Anteil am Publikum der teilnehmenden Institutionen sei 2020/21 zwar stark gesunken, habe sich danach aber wieder erholt. Die tendenziell kritische Veralterung sei weiter verschärft worden, „die Altersverteilung hat wieder das prä-pandemische Niveau erreicht“. „Vordergründig hat es den Anschein, als ob die Anteile jüngerer Besucherinnen und Besucher gestiegen wären“, heißt es weiter im Fazit.
Aber: „Dieses Phänomen ist nur auf das Fehlen älterer Gäste zurückzuführen und nicht mit gestiegener Besuchsaktivität der jüngeren Gäste gleichzusetzen (…) Zumindest in Bezug auf den Faktor Alter hat die Pandemie keine nachhaltigen Veränderungen der Publikumsstruktur bewirkt. Auf den zweiten Blick wird deutlich: Im Kulturpublikum besteht ganz generell wenig Diversifizierung nach Altersgruppen.“
Die ungleiche Verteilung sei nicht auf einen Alters-, sondern auf einen „Generationeneffekt“ zurückzuführen und auf die entsprechende Sozialisierung mit Kulturangeboten. Übersetzt: Geht Hänschen nicht von kleinauf mit in die Oper, bleibt Hans seelenruhig bei Netflix auf dem Sofa kleben. Und Hans und alle Gleichaltrigen bekommt man von dort kurzfristig nur noch schwer in eine Kultureinrichtung gelockt, so eine nun wirklich nicht neue Erkenntnis der Berliner Kultursoziologen.
Soziale Ungleichheit im Publikum hat sich verschärft
Ebenfalls verschärft habe sich die soziale Ungleichheit im Publikum: Wer schon vor Corona seltener Gast war, war es während der Pandemie noch seltener. Eine Genesung von diesem Zustand habe nicht stattgefunden. „In Bezug auf kulturelle Teilhabegerechtigkeit ist diese Entwicklung hochproblematisch“, ist in der Zusammenfassung zu lesen.
„Auch vor dem Hintergrund, dass die in den letzten 15 Jahren entwickelten Aktivitäten von Kultureinrichtungen zur Ansprache dieser unterrepräsentierten Gruppen offenbar durch äußere Umstände wie der Covid-19-Pandemie ihre Wirkung verlieren.“ Zudem hätten die aufgrund von Hygienemaßnahmen temporär eingestellten Vermittlungsmaßnahmen diese Entwicklung sicher noch verschärft.
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Nächstes Problemfeld, inzwischen nicht mehr ganz so akut: Einrichtungen, die sich traditionell auf ihr homogenes Stammpublikum fixierten, können dessen Fernbleiben „nicht einfach kompensieren“, digitale Angebote seien für das Bestandspublikum kein Ersatz für Präsenzveranstaltungen gewesen. Nur ein Viertel der Befragten habe seit Beginn der Pandemie überhaupt irgendein digitales Angebot der von ihnen gerade besuchten Sparte (Theater, Museen/Gedenkstätten) genutzt. Im Zeitverlauf nahm der Anteil der Nutzung zu, wohl wegen der zunehmenden Verbreitung und Bekanntheit.
Wie besonders war die Rolle der Beziehungsqualität zwischen Besuchern und Einrichtung?
In ihrer Schlussbetrachtung warnt die Studie flächendeckend: Die Pandemie – Zweitname: Brandbeschleuniger – habe viele bereits vorhandene Herausforderungen noch verschärft. Publikumsstrukturen, die nicht die Diversität der Gesellschaft abbilden, hätten zum ökonomisch problematischen Wegbleiben geführt, „die Verschärfung der sozialen Ungleichheit durch die Pandemie ist enorm“.
Eine finale Berliner Erkenntnis und das größte Fragezeichen: „Empirisch noch nicht angemessen erforscht ist die These der Entwöhnung des Publikums. Wie besonders war die Rolle der Beziehungsqualität zwischen Besuchern und Einrichtung? Geht die Einrichtung sogar gestärkt aus der Krise, wenn sie die Beziehung aufrechterhält?“ Erste Hamburger Zwischenergebnisse dazu will die Kulturbehörde nach sechs Monaten Recherche vorlegen.