Hamburg. Am St. Pauli Theater probte der einstige Thalia-Intendant für den Saisonhöhepunkt. Ein Interview in Zeiten leerer Säle.

Käme ein Pianist an einem Klavier vorbei, sagt Jürgen Flimm, müsse der sich wahrscheinlich hinsetzen und spielen. So ähnlich ergeht es ihm mit einer Probebühne. Am St. Pauli Theater hatte der langjährige Thalia-Intendant zuletzt sein dortiges Debüt vorbereitet. „Gefährliche Liebschaften“ kam jedoch nicht mehr zur Aufführung, kurz vor der Premiere kam die Schließung. Nun sitzt der Regisseur auf dem Land und schreibt an seinem Memoiren. Ein Gespräch über leere Theater und Kladden voller Lebenserinnerungen, über Zerwürfnisse und das Glück des Inszenierens – und über einen gut sortierten Nachlass.

Vor wenigen Tagen hätte Ihre Inszenierung „Gefährliche Liebschaften“ am St. Pauli Theater Premiere feiern sollen, dazu kam es nicht mehr. Wie geht es Ihnen?

Jürgen Flimm Ich war eine Zeit lang ein bisschen niedergeschlagen. Aber das ist Theater. Es gibt jetzt wirklich Wichtigeres. Ich bin jetzt auf dem Land und arbeite vor mich hin. Zwei Produktionen habe ich noch in der Planung. Ob die noch stattfinden werden? Keine Ahnung.

Wie weit waren Sie, als die Proben abgebrochen werden mussten?

Ziemlich weit. Auf unserer Probebühne in Berlin, wo die meisten der Schauspieler leben, hatten wir schon zwei Durchläufe gemacht, zum Glück auch ein Video. Dann wollten wir fröhlich nach Hamburg umziehen. Ich wollte sogar noch am St. Pauli Theater leuchten, aber dann musste Uli Waller die Luken dichtmachen. Was natürlich richtig war! Man verliert kein Bein dabei.

Glauben Sie daran, dass diese Produktion noch eine Premiere haben wird?

Ja! Ich bin ziemlich sicher. Ich bin ja ein optimistischer Mensch. Die Schauspieler wollen es ja auch unbedingt spielen! Wenn man will, kriegt man es auch hin.

Eigentlich hätten Sie gern am Thalia Theater inszeniert, einmal wenigstens noch - sogar auf eine Gage hätten Sie verzichtet. Warum hat das nicht geklappt?

Weil der Intendant das nicht will. Ich bin ein durchaus renommierter Regisseur, ohne falschen Stolz. Ich habe in der ganzen Welt inszeniert, von New York bis Peking, zwischendurch in St. Petersburg und in Mailand, viermal habe ich an der Scala inszeniert! Überall, in ganz Europa, rauf und runter. Aber fürs Thalia bin ich offensichtlich nicht gut genug. Ich habe 30 Jahre Hamburg gelebt und 41 Inszenierungen gemacht – oder 42, weiß ich nicht mehr genau. Was war da bloß früher? Vielleicht hat er hat Angst vor mir.

Sind Sie denn einer, vor dem man sich fürchten muss?

Na, also bisher noch nicht. Und als ich am Thalia war, war es wirklich toll, auch wenn wir immer ein bisschen Stress mit dem Schauspielhaus hatten. Frank Baumbauer hatte ja sechs Millionen mehr als wir. Aber wir haben nicht gejammert! Wir haben denen gezeigt, was ‘ne Harke ist. Luc Bondy war da, Wilson, Gosch, Tabori, Berghaus, Sellars, Minks…, wir waren ziemlich gut drauf damals! Mit Frank hab ich mich gezofft und immer wieder vertragen. Und jetzt sind wir ganz alte Kumpels, das ist sehr schön. Der Streit damals war aber schon auch toll, das beflügelt einen. Mal ist der eine mit der Nase vorn, mal der andere (kichert). Wir hatten unsere Häuser beide gut in Schuss. Aber bitte – ich habe mich jetzt sehr wohl gefühlt bei Uli Waller am St. Pauli Theater. Der Waller ist ja ein uralter Freund von mir, er war auch mal mein Regieassistent.

Bleiben solche alten Hierarchien über die Jahre bestehen, unterschwellig vielleicht…?

Nein, nein. Ich fand es sehr schön, für das St. Pauli Theater zu inszenieren, da habe ich noch nie vorher gearbeitet. Die Staatstheater in Hamburg hatte ich abgeklappert, Thalia, Schauspielhaus, Staatsoper. Mit dem Thalia verbindet mich eine besondere alte Liebe, da kenne ich jeden Zentimeter. Aber jetzt kümmert sich der Waller gut um mich.

Wie kam es denn überhaupt zu dieser Zusammenarbeit?

Es ging mir nicht gut letztes Jahr im Sommer, ich bin vom Pferd gefallen, hatte mir das Bein gebrochen und wurde falsch behandelt. Da war ich sehr lange in drei verschiedenen Krankenhäusern und hatte fünf Operationen. Das war eine böse Zeit, es war Spitz auf Knopf. Aber ich bin ein ziemlich zäher Bursche. Und da kam der Uli anspaziert! Der hat natürlich vorher schon immer mal wieder angeklopft, das war sehr nett von ihm. Und es gab immer eine große Sympathie bei mir für das St. Pauli Theater. Als Peter Zadek dort inszeniert hat, war ich oft dabei. Es ist ein bildschönes Haus! Wie im Londoner Westend. Die müssen allerdings jeden Cent umdrehen, das wissen wir auch, das ist in dieser Situation jetzt natürlich besonders bitter. Ist halt ein kleines Privattheater.

Wann haben Sie das letzte Mal an so einem kleinen Haus inszeniert?

Ach!

Ist Jahrzehnte her, oder?

Jahrhunderte! Das war im Theater am Dom in Köln, während meines Studiums.

Und welchen Unterschied hat es jetzt gemacht im Vergleich zu den Staatstheatern?

Keinen.

Keinen?

Gar keinen. Es kommt ja nur auf die Schauspieler an! Wenn die Schauspieler toll sind – und das sind sie! – können Sie überall arbeiten, ist ja völlig wurscht, wo!

Zuletzt waren Sie vor allem in der Oper unterwegs. Warum haben Sie denn so lange nicht am Sprechtheater inszeniert? Wurde Ihnen das zu unterkomplex?

Überhaupt nicht! Aber Musik hat mich dann sehr beschäftigt. Ich kannte zum Beispiel kaum die Musik des Barock. Durch den Dirigenten Nikolaus Harnoncourt hab ich die kennengelernt und dann all die anderen. Mozart vor allem.

War das die Faszination der Oper für Sie: dass Sie wieder etwas lernen konnten? Am Theater hatten Sie alle Level durchgespielt, kann man das so sagen?

Kann man so sagen. Ziemlich weit jedenfalls. Die Beschäftigung mit der Oper und der Musik ist ja noch einmal eine ganz eigene Sache. Ich war unheimlich dankbar, dass ich das noch erlebt habe. Das hat mich vorwärts gebracht. Und dann meine Freundschaft mit Daniel Barenboim, das ist schon etwas Entscheidendes in so einem langen Theaterleben. So jemand wie er macht Türen auf – da wusste ich gar nicht, was dahinter ist. Und wenn man dreimal „Figaro” inszeniert hat und das kann… dann ist man in der Musik angekommen. Man kommt morgens auf die Probe und hört schon Mozart – ist doch großartig! Mein „Figaro” an der Staatsoper in Berlin war ein riesiger Erfolg! Die Leute haben die Kassen gestürmt, wir mussten eine zusätzliche Vorstellung einschieben, das hat es in den Jahren zuvor nie gegeben. Da war ich sehr stolz. Der alte Satz „Das schönste Theater ist ein volles Theater” kam hier in großer Schönheit zu seiner Gültigkeit.

Nun sind die Theater alle leer… Hat das Ensemble mit Verständnis auf den Probenabbruch und die Premieren-Absage reagiert?

Natürlich, wir waren alle besorgt über die Situation. Und die wird ja nicht leichter. Und auch wenn wir noch einigermaßen davon gekommen zu sein scheinen – ich rate dazu, mal nach New York oder Italien zu schauen. Vorsicht, wer da behauptet, unsere Maßnahmen seien übertrieben. Das ist unanständig. Nein, alle meine Schauspieler fanden es schade – aber richtig.

Mit Sven-Eric Bechtolf, der den Valmont spielen sollte, haben Sie ja schon oft gearbeitet, ihn kennen Sie besonders lange …

Seeehr lange.

Knüpft man da nahtlos an alte Zeiten an?

Ja. Unsere Meinungen über das Theater sind dieselben. Und vor allen Dingen sind wir lustig.

Kamen Sie, als Sie noch geprobt haben, überhaupt zum Arbeiten oder haben Sie erstmal eine halbe Stunde lang erzählt, wie es früher so war?

Wir haben erst mal erzählt, wie es früher war. Nicht jedes Mal so lange! Aber wir packen schon die alten Anekdoten aus, Sven kennt noch viele. Wie ich mal das Regiepult durch die Gegend geschmissen habe … (lacht) …ach, es war wirklich sehr schön.

Mit Martina Gedeck haben Sie das erste Mal gearbeitet, oder?

Aber ich kenne sie schon lange! Ihr Mann, der Regisseur Markus Imboden, war auch mal mein Regieassistent, in Zürich damals. Und Martina und ich haben uns immer vorgenommen, mal zusammen zu arbeiten, es hatte sich bloß nie ergeben. Jetzt, in den „Gefährlichen Liebschaften”, passte es endlich. Eine leere Bühne, großartige Schauspieler und dann geht’s los! Das ist das schönste im Leben eines Regisseurs. Wird irgendwann wieder möglich sein.

Was ist schöner, Regisseur oder Intendant?

Regisseur ist fast schöner, muss ich sagen. Als Intendant brauchste schon Zeit, bis ein Theater beginnt zu laufen. Bei einer Regie kann das schon in drei Wochen passieren. Auch jetzt haben die Proben von der ersten Sekunde an Spaß gemacht. Das ist auch ein bisschen Heimat, so habe ich angefangen als Regisseur. Im Kellertheater in Köln habe ich meine erste Inszenierung gemacht! Unter anderem „Noch zehn Minuten bis Buffalo” von Günter Grass. Davon habe ich noch das Plakat. Als der Grass mich mal besucht hat, hab ich ihm das gezeigt und gesagt: Ich bin einer deiner allerersten Regisseure, du solltest sehr nett zu mir sein, weil ich sehr viel für deine Karriere getan habe! (lacht)

Haben Sie viele alte Plakate und Programmhefte aufbewahrt?

Ja, sehr viele. Das geht alles an das Archiv der Berliner Akademie der Künste, die haben sich schon gemeldet. Ich habe auch viele Theaterbücher, die gehen nach Köln ins Theatermuseum.

Sie haben Ihren Nachlass schon sortiert?

Ich habe ja ein großes Haus auf dem Land bei Cuxhaven, 13 Zimmer, und im ersten Stock ist ein Konferenzraum, da habe ich lauter kleine Kästchen, auf jedem steht eine Jahreszahl. Da ist das ganze Zeug drin. Kalender, Steuererklärungen, Regiebücher, alles. Die von der Berliner Akademie haben geweint vor Glück! Alles vorsortiert.

Haben Sie auch Tagebuch geschrieben?

Nein. Am Ende schreibt man doch nicht das, was wirklich interessant ist.

Was wäre denn wirklich interessant?

Die Liebe. Ich war mit wunderbaren Frauen befreundet. Und bin jetzt seit 30 Jahren mit der besten verheiratet. Oder die Kräche, die man so hatte… Das möchte ich eigentlich nicht aufschreiben. Aber ich schreibe ja an einem Buch mit Erinnerungen. Ich hoffe, dass ich das noch zu Ende bringen kann. Ich habe schon begonnen, habe viele Kladden voll mit Erinnerungen. Interessant finde ich aber auch, an was ich mich nicht erinnere.

Kommen die Frauen in Ihrem Buch vor…?

Die Frauen nicht, nein. Die Zerwürfnisse schon. Der Regisseur Fritz Kortner, bei dem ich Regieassistent war, der war ein ziemlich schwieriger Geselle. Ich habe genug erlebt. In Hamburg und anderswo.

Herr Flimm, Sie sind 80 Jahre. Haben Sie in dieser Situation eigentlich Angst um sich?

Nein. Ich bin ja alt genug. Ich kann hier aus dem Fenster gucken und sehen, wie alles grün wird, das ist schön. Ich bin zuversichtlich. Immer gewesen.