Hamburg. Der Ex-Thalia-Chef will es nochmal wissen und wagt sich mit 80 Jahren an eine Produktion, die zum Höhepunkt der Saison werden könnte.

Die Theater hatten es zuletzt nicht leicht. Erst Corona, dann der Krieg, schließlich die Inflation – und jetzt andauernd diese Sonne! Da kommen die Menschen auf Ideen, leider manchmal auf andere. Das St. Pauli Theater allerdings hält wacker dagegen: „Die Antwort auf alles“ heißt die erste Eigenproduktion, mit der die Kiezbühne im Oktober ganz offiziell in die neue Saison startet. Und das ist doch mal ein herrlich unbescheidenes Versprechen!

Die Hamburger Regisseurin Julia Hölscher wird das abgründige #metoo-Kammerspiel von Neil LaBute mit der deutsch-irakischen Schauspielerin Meriam Abbas, der Hamburger Theaterakademie-Absolventin Emma Bahlmann und Julia Nachtmann, die früher zum Ensemble des Deutschen Schauspielhauses gehörte, inszenieren. Premiere ist Ende Oktober.

St. Pauli Theater stellt Saisonvorschau 22/23 vor

Anschwung nimmt das Haus schon vom 6. August an, mit einem Gastspiel zum Vorglühen, das nahezu alles, was man darüber wissen muss, schon im Titel trägt: „Komödie mit Banküberfall“. Die Ko-Produktion der Shake Company mit dem Zürcher Theater am Hechtplatz sei „Monty Python pur“, verspricht St. Pauli-Co-Geschäftsführerin Christiane Schindler, die die Inszenierung erst kürzlich in der Schweiz gesehen hat. „Man kann sich beim Zuschauen wirklich fallen lassen – und muss einfach lachen.“

Ernsthafter, vielleicht auch: drängender wird es im November, wenn Intendant Ulrich Waller ein Stück an die eigene Bühne holt, das er selbst bereits zum Jahresbeginn in Luxemburg inszeniert hat. „Deltgen – en Escher Jong“ von Frank Feitler und Kristof van Boven erzählt von einem einst sehr berühmten Sohn der diesjährigen Kulturhauptstadt Europas: René Deltgen aus Esch, Staatsschauspieler von Hitlers Gnaden, der unter den Nazis Karriere machte und sich für den „Anschluss“ seiner Heimat ans „Deutsche Reich“ einsetzte.

Die heute in Deutschland arbeitenden Luxemburger Schauspieler André Jung („Tatort“, „Polizeiruf 110“) und Luc Feit („Babylon Berlin“) nähern sich dieser Figur in einer Klappkoffer-Bühne von Raimund Bauer. Das Bühnenmagazin „theater heute“ sah in Wallers Inszenierung nach der Luxemburg-Premiere einen „dichten kleinen Abend“ und ein „Highlight“ noch vor dem offiziellen Programm der europäischen Kulturhauptstadt.

Neuinszenierung der Dreigroschenoper trifft Zeitgeist

Über die Folgeinszenierung war am St. Pauli Theater schon in der Spielzeitpressekonferenz 2020 gesprochen worden – verschobene Produktionen gehören seither zum alltäglichen Corona-Geschäft. Nun aber soll sie endlich Premiere feiern: „Die Dreigroschenoper“, diesmal in der Regie von Peter Jordan und Leonhard Koppelmann, die in Hamburg zuletzt „Shockheaded Peter“ gemeinsam am Thalia einrichteten.

„Die Welt ist arm, der Mensch ist schlecht“ – und die Verhältnisse, sie sind nun also wieder so, dass dieses Stück, mit dem Brecht und Weill in der Weimarer Republik den Zeitgeist in einer brillanten Mischung aus Sarkasmus und Gassenhauer trafen, auf die Bühnen gehört. Fast 20 Jahre nach der letzen Kiez-„Dreigroschenoper“ von Ulrich Waller, in der Uli Tukur als Mackie Messer geradezu legendär dem Haifisch die Zähne zeigte, stehen von Januar 2023 an Gustav Peter Wöhler, Michael Rotschopf, Anneke Schwabe und Stephan Schad auf den Brettern. Jeder Krisenzeit ihr eigenes düsteres „Dreigroschen“-Finale: „Denn es ist kalt / Bedenkt das Dunkel und die große Kälte / In diesem Tale / Das von Jammer schallt.“

Waller, der schon Daniel Kehlmanns dichtes Dialogstück „Heilig Abend“ mit Barbara Auer und Johann von Bülow glänzend umsetzte (es wird auch in der kommenden Spielzeit wieder Termine geben), hat sich für das kommende Frühjahr ein neues Kehlmann-Kammerspiel vorgenommen: „Nebenan“, eigentlich ein gemeinsames Drehbuch von Kehlmann und dem Schauspieler Daniel Brühl. Der Film, im dem Brühl neben Peter Kurth nicht nur die Hauptrolle übernommen hatte, sondern erstmals auch die Regie, konkurrierte 2021 um den Goldenen Bären der Berlinale. In Hamburg spielen Oliver Mommsen und Stephan Grossmann („Das perfekte Geheimnis“).

Ein später Höhepunkt der Saison, wenn denn diesmal die Weltlage mitspielt, könnte das Zusammentreffen zweier Grandseigneurs der Hamburger Theatergeschichte werden: Der frühere Thalia-Intendant Jürgen Flimm (80) – dessen Rückkehr an eine Hamburger Bühne vor zwei Jahren von Corona jäh gestoppt wurde – setzt seinen alten Weggefährten Wolf Dietrich Sprenger (fast 80) in Szene. Samuel Becketts „Das letzte Band“ soll im Frühjahr 2023 Premiere feiern.

Den Sommer ‘23 werden Waller und seine Frau Dania Hohmann dann wieder in der Toskana verbringen. Nicht zum Urlauben: Der dritte Teil des deutsch-italienischen „Theaters der Erinnerung“ steht an. Und weil das St. Pauli Theater doch (nahezu) „Die Antwort auf alles“ parat hat, trifft auch dessen Titel wieder viele Lebenslagen: „Das Paradies ist immer woanders“.